Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
den Kämpfen der Kriegsherren überlebt. Er hatte das Kaiserreich geliebt, sogar noch, als es stark geschwächt war, hatte sich der Republik angepasst und sich mit der Kuomintang abgefunden, aber die Japaner hatten ihn schließlich vertrieben. China war in totalem Chaos versunken, das lange anzudauern drohte; wegen seines hohen Alters hatte er nicht die Hoffnung, das Ende dieser Epoche zu erleben und war daher nach Europa zurückgekehrt.
Der alte Mann atmete keuchend, hatte eine stark gebeugte Haltung und stützte sich auf alles, was in Reichweite war; es dauerte endlos, ehe er die Klasse vor den stehenden Schülern durchquert hatte, dann ließ er sich auf den Bürostuhl sinken, den Pater Fobourdon nie benutzte. Eine Stunde lang, genau eine Stunde lang zwischen zwei Glockensignalen, hatte er mit tonloser Stimme allgemeine Betrachtungen heruntergeleiert, die man in den Zeitungen hätte lesen können, in den Zeitungen aus der Vorkriegszeit, jenen die noch normal erschienen waren. Aber mit der gleichen, nach Atem ringenden Stimme, einer farblosen Stimme, die keinerlei Suggestivkraft besaß, las er auch seltsame Texte, die nirgendwo zu finden gewesen wären.
Er las Aphorismen von Lao-Tse, in denen die Welt sehr konkret verdeutlicht und zugleich unverständlich wurde; er las Fragmente aus dem I Ging, die so viel verschiedene Bedeutungen zu haben schienen wie eine Handvoll Karten; und schließlich las er Auszüge aus Sunzis Bericht über die Kunst des Krieges. Er zeigte, dass man jeden beliebigen Menschen in Schlachtordnung exerzieren lassen kann. Er zeigte, dass militärischer Gehorsam eine Eigenschaft der Menschheit ist, und dass militärischer Ungehorsam eine anthropologische Ausnahme oder ein fehlerhaftes Verhalten ist.
»Geben Sie mir irgendeine Bande von ungebildeten Bauern, und ich lasse sie als Ihre Leibgarde exerzieren«, sagte Sunzi zum Kaiser. »Nach den Prinzipien der Kunst des Krieges kann ich alle Menschen wie im Krieg exerzieren lassen.« »Sogar meine Konkubinen, diese leichtfertigen Hühner?«, fragte der Kaiser. »Sogar sie.« »Das glaube ich nicht.« »Geben Sie mir freie Hand, dann lasse ich sie exerzieren wie Ihre besten Soldaten.« Der Kaiser stimmte belustigt zu, und Sunzi ließ die Kurtisanen exerzieren. Sie gehorchten zum Spaß, lachten und gerieten aus dem Gleichschritt, sodass nichts Vernünftiges dabei herauskam. Der Kaiser lächelte. »Ich hatte nichts Besseres von ihnen erwartet«, sagte er. »Wenn die Kommandos nicht deutlich waren und die Befehle nicht ausdrücklich erläutert wurden, ist dies die Schuld des Generals«, sagte Sunzi. Er wiederholte seine Befehle und erklärte sie erneut, diesmal mit noch größerer Klarheit, die Frauen begannen wieder zu exerzieren und brachen wieder in großes Gelächter aus; sie gingen auseinander und verbargen das Gesicht hinter ihren Seidenärmeln. »Sobald die Befehle aber klar waren und nur nicht befolgt wurden, ist dies die Schuld der Offiziere.« Dann verlangte er, dass die Lieblingskurtisane, von der das Lachen ausging, enthauptet werde. Der Kaiser protestierte, aber sein Stratege beharrte respektvoll darauf; seine Majestät habe ihm freie Hand gelassen und wenn er wolle, dass sein Vorhaben ausgeführt werde, dann müsse er jenen, dem er diesen Auftrag erteilt habe, handeln lassen wie er es wünsche. Der Kaiser stimmte ein wenig betrübt zu, und die junge Frau wurde enthauptet. Tiefe Trauer breitete sich auf der Terrasse aus, auf der das Kriegsspiel eingeübt wurde, sogar die Vögel verstummten, die Blumen ließen keinen Duft mehr verströmen und kein Schmetterling flatterte mehr durch die Luft. Die hübschen Kurtisanen exerzierten stumm wie die besten Soldaten. Sie blieben gehorsam in Reih und Glied, vom Einverständnis der Überlebenden zusammengehalten, von jener Erregung, die der Geruch der Angst vermittelt. Aber die Angst ist nur ein Vorwand, den man sucht, um zu gehorchen: In den meisten Fällen zieht man es vor zu gehorchen. Man würde alles tun, um mit anderen zusammen zu sein, um sich im Geruch der Angst zu aalen und die besänftigende Erregung zu spüren, die die schreckliche Furcht vor dem Alleinsein verjagt.
Ameisen verständigen sich durch Gerüche: Sie erkennen Gerüche, die Krieg, Gerüche, die Flucht und Gerüche, die Anziehung signalisieren. Und diesen Gerüchen gehorchen sie immer. Wir Menschen besitzen flüchtige psychische Säfte, die sich wie Gerüche auswirken, und diese miteinander zu teilen, ist unser liebstes Ziel. Wenn
Weitere Kostenlose Bücher