Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
verschwinden, und auch dass viele bei herabgelassener Hose mit erstarrtem After gestorben seien. Man erzählt die Auswirkungen der Kälte wie Szenen eines grotesken Gruselkabinetts, das erinnert an das Geschwätz von Reisenden, die die weite Entfernung ausnutzen, um maßlos zu übertreiben. Lügenmärchen machen die Runde, vermutlich vermischt mit ein paar wahren Begebenheiten, aber wer hat in Frankreich noch das geringste Interesse daran, die Lust dazu oder sei es auch nur einen winzigen Rest von geistiger und moralischer Stärke, um die Spreu vom Weizen zu trennen?
Der Nebel breitet kalte Wäschestücke über den Straßen aus, über den Fluren, über den Treppen und bis hinein in die Schlafzimmer. Die feuchten Laken kleben an den Passanten, streifen die Wangen der Vorübergehenden, dringen in sie ein, rinnen über den Hals wie Tränen erkalteter Wut, Tropfen verrauchten Zorns, zärtliche Küsse von Sterbenden, die uns zum Mitkommen auffordern. Um all das nicht zu spüren, dürfte man sich nicht mehr rühren.
Unter der Wanduhr der Großen Lehranstalt wappnen sich die jungen Schüler, indem sie sich kaum rühren: nur ein kleines bisschen gegen die Kälte, aber mehr auch nicht, damit der Nebel sich nicht einschleicht. Sie treten von einem Bein aufs andere, schützen ihre Hände, ziehen die Schultern hoch und senken den Kopf. Sie ziehen die Tellermütze bis über die Ohren und halten den Umhang fest zugeschnürt, bis die Glocke läutet. Es gäbe eine schöne Tuschezeichnung ab, all diese in die gleichen schwarzen, an den Schultern abgerundeten Umhänge gehüllten Jungen, die sich in unregelmäßigen Gruppen gegen die klassische Architektur des Schulhofs abheben. Aber Salagnon hatte keine Tusche dabei, seine Hände waren geschützt und das Warten erboste ihn zunehmend. Er tat es den anderen nach, wartete auf das Läuten. Er spürte mit einem Hauch von Wonne das Kratzen des steifen Hefts.
Die Glocke läutete, und die Jungen rannten zu ihren Klassenräumen. Sie schubsten einander glucksend voran, taten so, als verstummten sie und machten dabei insgeheim noch mehr Lärm, gebrauchten die Ellbogen und drängelten sich mit Grimassen und unterdrücktem Lachen an den beiden Aufsichtsführenden vorbei, die mit möglichst unbewegter Miene die Tür einrahmten und dabei die in jenem Jahr äußerst beliebte militärisch straffe Haltung einnahmen. Wie soll man die Schüler der Großen Lehranstalt bezeichnen? Sie sind zwischen fünfzehn und achtzehn, aber im Jahr 1943 besagt das Alter in Frankreich nichts. Junge Leute? Diese Ehre haben sie angesichts dessen, was sie täglich erleben, nicht verdient. Junge Männer? Das ist zu vielversprechend für das, was sie erleben werden. Wie soll man jene, die mit einem unterdrückten Lächeln an ihren Aufsichtsführenden vorbeigehen, schon anders nennen als Bengel? Sie sind Bengel, die vor dem Gewitter in Sicherheit sind, sie hausen in einem eiskalten Steinkasten und rempeln sich gegenseitig an wie junge Hunde. Sie warten darauf, dass das Leben vorübergeht, kläffen und geben dabei vor, nicht zu kläffen, sie tun etwas und zeigen dabei, dass sie es nicht tun. Sie sind in Sicherheit.
Die Glocke läutete, und die Jungen versammelten sich. Die Luft in Lyon ist so feucht, die Luft war 1943 von so schlechter Qualität, dass die Töne der Bronzeglocke fast erstickt wurden: sie fielen mit dem Geräusch von feuchter Pappe zu Boden, glitten durch den Schulhof und verschmolzen mit den zerrissenen Blättern, den Schneeresten, dem schmutzigen Wasser und dem Schlamm, der alles bedeckte und Lyon allmählich erfüllte.
Die Schüler gingen in Reih und Glied durch einen langen, eiskalten Flur zu ihren Klassenzimmern. Der Lärm ihrer Holzpantinen hallte von den kahlen Wänden zurück, wurde aber vom ständigen Rascheln der Umhänge und vom Geplapper der Jungen, die zwar schwiegen, aber nicht still sein konnten, gedämpft. Das erzeugte in Salagnons Ohren eine widerwärtige Kakofonie, die er hasste und bei der er einen steifen Gang annahm, so wie man sich die Nase zuhält, wenn man durch einen stinkenden Raum geht. Das Klima ist Salagnon völlig egal; die Kälte des Gebäudes sagt ihm eher zu; die lächerliche Ordnung, die in einer Schule herrscht, erträgt er. Das sind unangenehme Umstände, von denen man Abstand nehmen kann, aber wenn das wenigstens in aller Stille geschehen würde! Der Lärm auf dem Gang verletzt ihn. Er versucht, nichts mehr zu hören, das Trommelfell von innen zu schließen, sich in seine
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