Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
sah die vom Nebel verhüllten Straßen nicht, und keine Logik in der Anordnung der Dächer ließ ihren Verlauf erraten: nichts deutete auf die Lage von Durchfahrten hin. Diese zu alte Stadt machte nicht den Eindruck, als sei sie erbaut worden, sondern vielmehr, als sei sie dort hingesetzt worden, nach einem Erdrutsch liegen geblieben. Der Hügel, an den sie sich schmiegt, hat nie ein besonders sicheres Fundament geliefert. Manchmal halten die mit Wasser durchtränkten Moränen nicht mehr und stürzen ein. Aber heute nicht: das Gewirr, das Victorien Salagnon betrachtete, existierte nur in seiner Vorstellung. Die Altstadt, in der er lebte, war zwar nicht geradlinig erbaut, aber der unschlüssige, schwebende Anblick, den sie an jenem Wintermorgen des Jahres 1943 bot, hatte nur meteorologische Gründe; das versteht sich von selbst.
Um sich davon zu überzeugen, versuchte er eine Zeichnung anzufertigen, denn Zeichnungen bringen dort eine Ordnung ans Licht, wo das Auge sie nicht sieht. Von seinem Zuhause aus hatte er den Nebel gesehen. Beim Blick durchs Fenster reduzierte sich alles auf Formen, die einer Kohlezeichnung auf körnigem Papier glichen. Er hatte ein Heft mit rauem Papier und einen weichen Bleistift genommen, sie sich hinter den Gürtel gesteckt und seine Schulsachen mit einem Stoffband zusammengeschnürt. Seine Jackentaschen waren zu klein für sein Heft, er legte es nicht gern zu seinen Schulsachen und wollte auch nicht sein Talent zur Schau stellen, indem er das Heft in der Hand trug. Diese leichte Unbequemlichkeit störte ihn nicht: Sie erinnerte ihn daran, dass er nicht dorthin ging, wohin jeder vermutete, dass er ein anderes Ziel verfolgte.
Er zeichnete nichts Rechtes. Der grafische Aspekt des Nebels war durch das Fenster herausgekehrt worden, durch dessen Rahmen und den Filter der Scheibe. Auf der Straße verflüchtigte sich das Bild. Es blieb nur eine kalte, verschwommene und aufdringliche Präsenz davon übrig, die sich bildlich nur schwer umsetzen ließ. Um ein Bild zu zeichnen, darf man nicht selbst darin gefangen sein. Er ließ sein Heft stecken, zog seinen Umhang fester um die Hüften, um es vor der feuchten Luft zu schützen, und ging ganz einfach zur Schule.
Er kam in der Großen Lehranstalt an, ohne etwas gezeichnet zu haben. Am Rand der Terrasse versuchte er eine Vorstellung vom Labyrinth der Dächer zu vermitteln. Er zeichnete den ersten Strich, doch das feuchte Blatt zerriss; mehr als verschmutztes Papier war nicht zu sehen. Er klappte das Heft wieder zu, steckte es sich hinter den Gürtel und tat es den anderen gleich: Er stellte sich unter die große Wanduhr auf dem Schulhof, trat von einem Bein aufs andere, bis die Glocke läutete.
Der Winter in Lyon ist feindselig; nicht so sehr wegen der Temperaturen als vielmehr wegen dem, was der Winter offenbart: Das eigentliche Baumaterial der Stadt ist der Schlamm. Lyon ist eine Stadt aus Sedimenten, aus zu Häusern kompaktierten Sedimenten, und diese Häuser sind im Sediment der Flüsse verwurzelt, die die Stadt durchfließen; und Sediment ist nur ein höfliches Wort für den sich anhäufenden Schlamm. Im Winter verwandelt sich in Lyon alles in Schlamm, der schwankende Boden, der Schnee, der nicht liegen bleibt, die fließenden Mauern und sogar die feuchte, kalte Luft, die man als zäh empfindet und die die Kleider mit kleinen Tropfen und mit durchsichtigem Schlamm durchtränkt. Alles wird schwerer, der Körper sinkt ein, und es gibt nichts, um sich davor zu schützen. Es sei denn, man bleibt in seinem Zimmer, lässt den Ofen Tag und Nacht brennen und schläft in einem Bett, das mehrmals am Tag mit einer mit heißer Glut gefüllten Bettpfanne vorgewärmt wird. Doch wer verfügt im Winter 1943 noch über ein Schlafzimmer, über Kohle und Glut?
Aber gerade im Jahr 1943 ist es ungebührlich sich zu beklagen, denn anderswo ist die Kälte viel schlimmer. In Russland zum Beispiel, wo unsere Truppen oder ihre Truppen oder die Truppen kämpfen, man weiß nicht mehr so recht, was man sagen soll. In Russland wird die Kälte zu einer Katastrophe, zu einer langsamen Explosion, die alles auf ihrem Weg zerstört. Man sagt, Leichen seien wie gläserne Klötze, die zerbrechen, wenn man sie nicht richtig trage; oder einen Handschuh zu verlieren, ziehe den Tod nach sich, denn das Blut friere zu Nadeln, die die Hände zerreißen; oder auch, dass Männer, die im Stehen sterben, den ganzen Winter wie Bäume stehen blieben und im Frühling schmelzen und
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