Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Schulfranzösisch.
»Das war aber haarknapp.«
Chassagneaux sprach, ohne die Lippen zu bewegen, sehr geschickt, wie nur Schüler es können. Salagnon zuckte die Achseln.
»Fobourdon ist zwar sehr streng. Aber immerhin führen wir hier ein ruhigeres Leben als anderswo, findest du nicht?«
Salagnon lächelte und zeigte die Zähne. Unter dem Pult kniff er Chassagneaux fest in den Schenkel.
»Ich mag kein ruhiges Leben«, flüsterte er.
Chassagneaux stöhnte und stieß einen lächerlichen Schrei aus. Salagnon kniff ihn lächelnd weiter, ohne beim Schreiben innezuhalten. Das musste sehr wehtun; Chassagneaux würgte ein Wort hervor, das allgemeines Gelächter hervorrief, die Welle des Lachens breitete sich rings um ihn aus, als sei ein Stein in die Stille der Klasse geworfen worden. Fobourdon brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Was ist los? Chassagneaux, stehen Sie auf. Waren Sie das?«
»Ja, Monsieur.«
»Und warum?«
»Ein Krampf, Monsieur.«
»Sie kleiner Dummkopf. In Lakonien ließen sich die jungen Männer lieber wortlos den Bauch aufschlitzen, als das Schweigen zu brechen. Sie werden eine Woche lang die Tafel und die Schwämme reinigen. Und dabei werden Sie sich auf den exemplarischen Charakter dieser Aufgaben konzentrieren. Die Stille ist die Sauberkeit des Geistes. Ich hoffe, dass Ihr Geist wieder so sauber wird wie die Tafel.«
Es war leises Gelächter zu hören, das er mit einem barschen »Genug jetzt!« im Keim erstickte. Alle machten sich wieder an die Arbeit. Chassagneaux verzog schmollend den Mund und betastete behutsam seinen Schenkel. Mit seinen leichten Pausbacken und seinem sauber gezogenen Scheitel wirkte er wie ein kleiner Junge, der kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Salagnon schob ihm einen mehrfach gefalteten Zettel zu. »Bravo! Du hast den Mund gehalten. Du bleibst mein Freund.« Der Junge las den Zettel und warf ihm einen vor Dankbarkeit feuchten Blick zu, der bei Salagnon ein Gefühl tiefen Ekels auslöste: Sein ganzer Körper wurde steif, er zitterte und hätte sich fast übergeben. Da tauchte er seine Feder in die Tinte und begann den Text abzuschreiben, den er schon übersetzt hatte. Er konzentrierte sich nur noch auf seine Schrift, versetzte sich innerlich ganz in seine Feder und in die an der Stahlfeder hinabrinnende Tinte. Sein Körper beruhigte sich allmählich. Von seinem Atem belebt zeichneten sich die Buchstaben in lebendigen blauen Bögen ab, ihr langsamer Rhythmus besänftigte ihn, und er beendete seine Zeilen mit einem schwungvollen Schnörkel, präzise wie ein Treffer beim Fechten. Die klassische Kalligrafie verschafft unruhigen und gewalttätigen Menschen die nötige Ruhe.
Man erkennt den Soldaten an seiner Kalligrafie, wie die Chinesen angeblich sagen. Die Schriftbewegungen entsprechen im Kleinen denen des ganzen Körpers und sogar denen des gesamten Daseins. Die Haltung und die Entscheidungsfindung sind die gleichen, egal in welchem Maßstab. Salagnon teilte diese Ansicht, auch wenn er sich nicht entsinnen konnte, wo er das gelesen hatte. Über China wusste er so gut wie nichts, höchstens ein paar Einzelheiten, ein paar Gerüchte, aber das genügte, um in seiner Fantasie ein Land in weiter Ferne entstehen zu lassen, das zwar ein wenig verschwommen, aber durchaus präsent war. Er hatte es mit dicken lachenden Buddhas bevölkert, gewundenen Steinen, blauen, nicht sehr schönen Porzellanvasen und jenen Drachen, die die Fläschchen mit sogenannter Chinatusche schmücken, und die der falschen englischen Übersetzung zufolge aus Indien stammt. Seine Vorliebe für China ging in erster Linie auf ein Wort zurück, auf ein einziges Wort auf einem Tuschefläschchen. Er liebte schwarze Tusche so sehr, dass sie für ihn die Macht besaß, ein ganzes Land zu gründen. Träumer und Ungebildete haben manchmal sehr tiefsinnige Intuitionen, was das Wesen der Realität angeht.
Was Salagnon über China wusste, ging im Wesentlichen auf die Worte eines alten Herrn in einer Philosophiestunde zurück. Und er hatte langsam gesprochen, wie Salagnon sich entsann, hatte sich mehrfach wiederholt und sich in ausführlichen allgemeinen Betrachtungen ergangen, die die Aufmerksamkeit der Zuhörer erlahmen ließen.
Fobourdon hatte einen hochbetagten Jesuitenpater, der fast sein ganzes Leben in China verbracht hatte, in seine Klasse eingeladen. Der Mann hatte den Boxeraufstand überstanden, der Zerstörung des Alten Sommerpalasts beigewohnt und die allgemeine Unsicherheit bei
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