Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Brüste einer nackten Frau, die man betrachtet, haben nichts mit denen einer Statue oder denen von Grafiken gemein, die er manchmal studierte: richtige Brüste sind sichtlich schwerer als jene, die man sich vorstellt; sie sind nicht so symmetrisch; sie haben ein gewisses Gewicht und hängen herab; sie haben eine besondere Form, die nicht der Geometrie entspricht; sie lassen sich nicht mit den Augen wahrnehmen; sie appellieren an die Hand, um sie richtig zu erfassen. Auch Hüften haben Falten und Rundungen, die Statuen nicht besitzen. Und die Haut hat Einzelheiten, Härchen und Flecken, die Statuen nicht besitzen. Das versteht sich von selbst, denn Statuen haben keine Haut. Die des Mädchens war mit aufgerichteten Härchen bedeckt und wurde von Schauern überlaufen, denn im Atelier war es kalt.
Er hatte mit einem märchenhaften, erotischen Schauspiel gerechnet, hatte sich vorgestellt, wie er explodieren und sabbernd oder wenigstens zitternd über den Boden kriechen würde, doch nichts davon geschah: vor ihr, vor dieser unvollkommenen Statue wusste er nicht, was er empfinden sollte; er wusste nicht, wohin er blicken sollte. Sein Bleistift verlieh ihm schließlich Haltung. Er zeichnete, deutete Linien an, brachte mit reibendem Finger Schatten hervor, und allmählich offenbarte ihm die Zeichnung das wahre Gewicht der Hüften, der Brüste, der Lippen und der Schenkel; und allmählich kamen auch die Emotionen, die er sich vorgestellt hatte, aber in ganz anderer Form. Er hatte Lust, die junge Frau in die Arme zu schließen, überall die Wärme und das Beben ihres Körpers zu suchen, sie hochzuheben und anderswohin zu tragen. Ihre Gestalt wurde immer flüssiger, gegen Ende der Unterrichtsstunde gelangen ihm ein paar schöne Skizzen, die er eng zusammenrollte und in seinem Zimmer versteckte.
Er blieb nicht lange im Milieu der Kunststudenten. Sein Onkel knöpfte sich eines Abends jenen Freund vor – das war vielleicht ein bisschen zu viel gesagt –, direkt vor dem Bistro, in dem sie herumlungerten. Er hatte mit verschränkten Armen auf dem Bürgersteig gewartet, eine Schulter an die Wand gelehnt. Als die kleine Gruppe lachend aus dem Lokal kam, ging er schnurstracks auf den hochgewachsenen Maler zu und haute ihm rechts und links eine runter. Der junge Mann brach auf der Stelle zusammen, was sowohl auf den Überraschungseffekt und die Ohrfeigen zurückzuführen war als auch auf den Alkohol, den er getrunken hatte. Alle stoben auseinander und verschwanden in den Seitenstraßen, bis auf Victorien, der diesem Akt der Gewalt wie betäubt zugesehen hatte. Sein Freund – das war vielleicht ein bisschen zu viel gesagt – blieb auf dem Boden liegen, unfähig sich zu erheben, und schluchzte vor den Füßen des Onkels, der reglos mit den Händen in den Taschen dastand und den jungen Mann betrachtete. Aber was Victorien viel mehr erschreckte als das Heulen eines jungen Mannes, der eine Viertelstunde zuvor noch völlig unantastbar und so glänzend, so gewitzt gewirkt hatte, war die Ähnlichkeit, die der Onkel in jenem Moment mit seiner Schwester hatte, sein gleichgültiges Gesicht, während ein junger Mann vor seinen Füßen lag, der heulte, weil er ihn geohrfeigt hatte. Das erschreckte ihn, denn er dachte nicht, dass er etwas mit ihr gemein haben konnte, und dennoch war diese Ähnlichkeit deutlich zu erkennen.
Der Onkel brachte ihn wortlos zum Laden zurück. Er öffnete ihm die Tür und wies auf das völlig dunkle Innere. Victorien blickte ihn fragend an. »Zeichne. Zeichne so viel du willst. Aber halte dich von diesen Kreisen fern und gehe diesen Leuten aus dem Weg. Lass diese Typen fallen, diese Kleckser, die sich Künstler nennen und die von ihrer Berufung geheilt sind, sobald man ihnen rechts und links eine runterhaut. Er hätte aufstehen müssen, um zu versuchen, mich mit einem Faustschlag niederzustrecken. Oder mich mit Schimpfworten zu überhäufen, und sei es nur mit einem einzigen. Aber er hat nichts dergleichen getan. Er hat nur geheult. Also lass ihn laufen.«
Er schob Victorien in den Laden und schloss die Tür hinter ihm. Victorien ging tastend durch den Raum zu seinem Zimmer. Er schlief schlecht. Die Dunkelheit des Zimmers wurde vom Dunkel der geschlossenen Augen verstärkt, er hatte das Gefühl, dass es eine Schwäche wäre, wenn er einschliefe. Die Müdigkeit zog ihn nach unten, zum Sich-Abfinden mit dem Schlaf, aber die Erregung versuchte sich aufzuschwingen und zog ihn nach oben, wo er sich an der zu niedrigen
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