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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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Blutlache breitete sich auf dem Bürgersteig unter ihm aus. Salagnon machte sich auf den Heimweg, ging die Straßen in Richtung Westen entlang, ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Nebel war aufgekommen, sodass er nichts sah, aber auch nicht gesehen wurde. Wenn er einer Streife begegnet wäre, wäre er nicht weggerannt, er hätte sich festnehmen lassen; man hätte ihn wegen der Farbspuren eingelocht. Aber er begegnete niemandem, und am frühen Morgen schlüpfte er, nachdem er sich das Geschlechtsteil mit einem industriellen Lösungsmittel gereinigt hatte, ins Bett und schlief ein bisschen.
    Sie holten die Leiche mit einem Fahrzeug ab, entfernten aber nicht den Buchstaben und ließen auch das Blut auf dem Boden zurück. Die Typen von der Propagandastaffel hatten dabei wohl ihre Hand im Spiel gehabt: Das Zeichen des Aufstands deutlich sichtbar zu lassen, zeigte, dass er im Keim erstickt worden war. Oder niemand hatte daran gedacht, jemanden hinzuschicken, um die Farbe abzukratzen und das Blut aufzuwischen.
    Die Leiche von Robert Chassagneaux wurde auf dem Place Bellecour auf dem Rücken liegend öffentlich zur Schau gestellt, bewacht von zwei französischen Polizisten. Das Blut hatte sich schwarz gefärbt, der Kopf war seitlich auf die Schulter gesunken, der Mund offen, die Augen geschlossen. Auf einem bedruckten Schild konnte man lesen, dass Robert Chassagneaux, 17 Jahre, die Ausgangssperre nicht beachtet hatte; er war erschossen worden, nachdem er feindliche Parolen auf die Mauern einer strategisch wichtigen Fabrik gepinselt und beim Herannahen einer Streife zu fliehen versucht hatte. Anschließend wurden die Vorschriften der Ausgangssperre noch einmal in Erinnerung gerufen.
    Die Leute gingen an der auf dem Platz liegenden Leiche vorbei. Die beiden leicht gebeugten Polizisten, die sie bewachten, bemühten sich, niemanden anzusehen, diese Wache bedrückte sie, sie wussten nicht, wie sie den Blicken standhalten sollten. Man hält sich normalerweise nicht zu lange auf diesem zu großen, stillen Platz auf, der den ganzen Winter von Unruhe und Nebel erfüllt ist. Man läuft mit gesenktem Kopf vorüber, steckt die Hände in die Taschen und zieht sich so schnell wie möglich in den Schutz der Straßen zurück. Aber nun bildeten sich kleine Ansammlungen von Frauen mit Einkaufstaschen und alten Männern rings um den Toten. Sie lasen stumm das gedruckte Plakat und betrachteten den offenen Mund und das blutverklebte Haar. Die alten Männer gingen brummend wieder weg, und manche Frauen redeten auf die Polizisten ein und bemühten sich sie zu beschämen. Diese antworteten nie, murmelten nur kaum hörbar, ohne den Kopf zu heben »weitergehen, weitergehen!«, was sich anhörte wie ein ärgerliches Schnalzen mit der Zunge.
    Als die Leiche anfing zu riechen, gab man sie den Eltern wieder. Der Junge wurde schnell begraben. An jenem Tag trugen alle Schüler seiner Klasse einen Trauerflor, den Fobourdon nicht kommentierte. Als die Glocke nach der letzten Unterrichtsstunde läutete, standen sie nicht auf; sie blieben stumm vor Fobourdon sitzen. Das dauerte zwei oder drei Minuten, ohne dass sich jemand rührte. »Messieurs«, sagte er schließlich, »morgen ist ein anderer Tag.« Da standen sie auf, ohne mit den Stühlen zu scharren und gingen.
    Wie alle anderen erkundigte sich auch Salagnon nach den Todesumständen. Gerüchte machten die Runde, übertriebene Geschichten, von denen sich viele wahr anhörten. Er nickte jedes Mal, erzählte sie weiter und fügte selbst neue Einzelheiten hinzu.
    Chassagneaux’ Tod sollte exemplarisch sein. Salagnon zeigte einen Brief, den sein Kamerad angeblich am Tag vor seinem Tod geschrieben hatte. Ein Brief, in dem er sich bei seinen Eltern entschuldigte, allen Lebwohl sagte und einen tragischen Entschluss fasste. Salagnon hatte die Schrift seines Kameraden gewissenhaft nachgeahmt und das Papier künstlich ein wenig altern lassen, um ihm Leben zu verleihen. Er ließ diesen Brief herumgehen und gab ihn dann den Eltern von Chassagneaux. Diese empfingen Victorien, befragten ihn lange und weinten viel. Er antwortete so gut er konnte, erfand all das, was er nicht wusste, und rückte Chassagneaux immer ins rechte Licht, sodass man ihm umso leichter glaubte. Die Eltern dankten ihm, geleiteten ihn sehr rücksichtsvoll zur Tür, betupften sich die verweinten Augen und verabschiedeten sich von ihm. Als er wieder auf der Straße war, rannte er mit sengend heißer Stirn und schweißüberströmten

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