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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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horchten, ob nicht der rhythmische Schritt einer Streife oder das Brummen eines Militärfahrzeugs zu hören war. Schließlich standen sie vor der Mauer, ohne jemandem begegnet zu sein. Sie glänzte im Mondlicht wie eine Rolle weißes Papier. Die Arbeiter würden am nächsten Morgen die Worte lesen. Salagnon hatte keine genaue Vorstellung davon, was Arbeiter waren, er wusste nur, dass sie kräftig, halsstarrig und Kommunisten waren. Aber die Zugehörigkeit zur selben Nation würde den Klassenunterschied ausgleichen: Auch sie waren Franzosen und besiegt wie er. Die Worte, die sie am nächsten Morgen lesen könnten, würden jene Seite in ihnen entflammen, die keinen Platz in dem von Deutschland beherrschten Europa hatte. Die Unterworfenen müssen aufbegehren, denn sie sind aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit unterworfen und werden sonst nie etwas erreichen. Das mussten sie natürlich mit einfacheren Worten ausdrücken.
    Es dauerte lange, ehe sie den Farbeimer geöffnet hatten. Der Deckel schloss gut, und sie hatten vergessen, einen Schraubenzieher mitzunehmen. Sie versuchten, die Pinselstiele als Hebel zu benutzen, doch sie waren zu dick und rutschten ab; sie taten sich weh, das in ihren Adern gestaute Blut ließ ihre Finger zittern, sie schwitzten vor Unruhe angesichts dieses Eimers, den sie nicht zu öffnen vermochten. Sie klemmten einen flachen Stein unter den gefalzten Deckelrand, mühten sich halblaut fluchend ab, bis es ihnen schließlich gelang, den Behälter zu öffnen, wobei etwas Farbe auf den Boden schwappte und ihre Hände und die Pinselstiele besudelte. Sie waren schweißüberströmt. »Uff!«, sagten sie leise. Der offene Eimer verbreitete einen beißenden Geruch nach Lösungsmitteln; in der wieder eingekehrten Stille hörte Salagnon sein Herz schlagen. Er hörte es wirklich, wie von außen. Er empfand sofort das dringende Bedürfnis zu pissen.
    Er überquerte die an dieser Stelle sehr breite Straße und ging zu einer Mauerecke. Er stand im Mondschatten und pisste auf den Sockel eines Zementpfeilers. Das erleichterte ihn unendlich, erfüllte ihn fast mit Schwärmerei, jetzt würde er schreiben können; er blickte zu den Sternen im kalten Himmel auf, als er ein »Halt!« hörte, das ihn zusammenzucken ließ. Er musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um den Urinstrahl unter Kontrolle zu bekommen. »Halt!« Dieses Wort knallt wie das Geschoss einer Schleuder: Schon allein das Wort ist ein Akt, es wird von allen europäischen Seelen verstanden. Das »H« treibt es wie ein Raketenmotor an, und das schroffe »t« trifft prallend auf das Ziel: Halt!
    Salagnon, der noch immer pisste, wandte vorsichtig den Kopf. Fünf Deutsche rannten herbei. Die Metallteile ihrer Ausrüstung, ihre Helme, ihre Waffen, glitzerten im Mondlicht. Der Farbeimer stand offen vor der Mauer, unter einem schon gemalten großen »N«, von dem ein Geruch nach Lösungsmitteln ausging, den Salagnon sogar noch in seinem dunklen Winkel wahrnahm. Chassagneaux rannte fort, das Echo seiner Schritte wurde von der Mauer in immer höheren Tönen zurückgeworfen, je weiter er sich entfernte. Einer der Deutschen legte das Gewehr an und schoss, es ertönte ein kurzer Knall, Chassagneaux brach zusammen. Zwei Soldaten holten die Leiche, schleiften sie an den Füßen über die Straße. Salagnon fragte sich, was er tun solle, weiterpissen, flüchten oder die Hände heben? Er wusste, dass man die Hände heben muss, wenn man ertappt wird, aber seine Tätigkeit entband ihn vielleicht von dieser Verpflichtung. Er wusste nicht einmal, ob sie ihn gesehen hatten, er war durch nichts verborgen, bis auf den Umstand, dass er im Mondschatten stand. Er rührte sich nicht. Die Deutschen legten die Leiche unter das »N«, verschlossen den Deckel des Farbeimers und wechselten ein paar Worte, deren Klang sich in Salagnons von Angst und Beklemmung erweichtes Hirn für immer einprägte. Sie sahen nichts. Sie ließen die Leiche unter dem Buchstaben liegen, nahmen Eimer und Pinsel mit und zogen im Gleichschritt wieder ab.
    Salagnon zitterte, er fühlte sich nackt in seinem Winkel, nichts verbarg ihn. Doch sie hatten ihn nicht gesehen. Der Mondschatten hatte ihn geschützt, das Fehlen eines Verstecks hatte ihn besser verhüllt als Mauern es getan hätten. Als er seinen Hosenschlitz wieder zuknöpfte, klebte alles. Er hatte so gezittert, dass er sein Geschlechtsteil mit Farbe eingeschmiert hatte. Er ging zu Chassagneaux: Die Kugel hatte ihn mitten in den Kopf getroffen. Eine

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