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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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liegen gelassen. Aber anderen gelang es zu fliehen. »Eines hat mich damals gewundert und wird mich immer wundern«, sagte der Onkel, »nämlich warum nur so wenige geflüchtet sind. Fast alle haben gehorcht.« Die Fähigkeit zu gehorchen, kennt keine Grenzen, das ist einer der am weitesten verbreiteten menschlichen Charakterzüge; man kann sich immer auf den Gehorsam verlassen. Die stärkste Armee der Welt ließ sich ohne Widerstand auflösen, und begab sich anschließend selbst in Gefangenenlager. Was Bomben nicht hätten erreichen können, erzielte der Gehorsam. Ein Schnalzen mit den Fingern genügt: Man ist derart daran gewöhnt. Wenn man nicht mehr weiß, was man tun soll, dann tut man das, was man uns sagt. Der Typ, der mit den Fingern schnalzte, strahlte Sicherheit aus, er wusste, was zu tun war. Der Gehorsam sitzt so tief in all unseren Handlungen, auch den unscheinbaren, dass wir ihn nicht einmal mehr wahrnehmen. Man führt den Befehl aus. Der Onkel verzieh sich nie, dass er dieser Handbewegung gehorcht hatte. Niemals.
    Victorien begriff nicht, was sein Onkel damit sagen wollte. Er hatte nicht den Eindruck zu gehorchen. Er übersetzte Texte, lernte Latein, indem er alte Bücher las, aber dabei handelte es sich um eine Ausbildung, nicht um Gehorsam. Und er zeichnete; das hatte niemand von ihm verlangt. Daher waren die Berichte seines Onkels für ihn wie exotische Erzählungen. Später würde er fortgehen, aber bis dahin beschäftigte ihn der Schulalltag.
    Er ging manchmal mit einer Schar von Gymnasiasten aus. Ausgehen bedeutet in Lyon, die Hauptstraße auf und ab zu gehen. Das tut man in Gruppen, Jungen und Mädchen getrennt, und dabei wird gegluckst, heimlich gelacht oder ein verliebter Blick auf jemanden geworfen und manchmal mit Heldenmut ein Kompliment gemacht, das sogleich von der betretenen Unruhe der jungen Leute verschluckt wird. Diese Unruhe verausgaben sie auf der Rue de la République, die sie erst hinauf- und dann wieder hinabgehen, das ist in Lyon so üblich, ehe man in einem der mit einer farbigen Markise ausgestatteten Bistros am großen Platz etwas trinkt, dem großen, leeren Platz im Stadtzentrum. Ein siebzehnjähriger Lyoner käme nicht auf die Idee, irgendetwas anderes zu tun.
    Unter den Kameraden, mit denen er auf der Straße und in den Bistros verkehrte – verkehrte ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt –, hatte ihn einer in die Zeichenakademie eingeladen. »Komm in den Kurs für Aktzeichnen, du hast doch Talent«, sagte er grinsend und hob dabei sein Glas, sodass Victorien errötete und die Nase tief ins Glas beugte, da er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Der junge Mann war älter als er, ziemlich salopp, Künstler, redete in Andeutungen, machte sich oft lustig anstatt zu lachen, und versicherte, es sei gar nicht so einfach, in den Kurs für Aktzeichnen aufgenommen zu werden.
    »Mein Freund hat Talent«, hatte er zu dem Lehrer gesagt und ihm zwei Flaschen zugesteckt, die Victorien im Weinkeller seines Vaters geklaut hatte. Der Mann mit dem Spitzbart hielt in jeder Hand eine Flasche und ehe er die Zeit fand, sie abzustellen, um die Hände wieder frei zu haben, saß Victorien schon neben seinem Freund – das war vielleicht ein bisschen zu viel gesagt – vor einem mit Heftzwecken auf einer Staffelei befestigten weißen Blatt. Der Deal hatte geklappt, der Zeichenlehrer zuckte die Achseln und bemühte sich, das spöttische Lächeln, das der Zwischenfall bei seinen Schülern hervorgerufen hatte, zu übersehen. Mit Zeichenstiften in der Hand begann Victorien mit großem Ernst das Mädchen inmitten all der jungen Männer zu beobachten, das nackte Mädchen, das Posen einnahm, die er nicht für möglich gehalten hätte.
    Er hatte die wildesten Erwartungen damit verbunden, endlich ein nacktes Mädchen zu sehen. Sein Freund – das war vielleicht ein bisschen zu viel gesagt – hatte spöttisch gelacht, als er ihm diese Szene und die intime Anatomie junger Frauen beschrieben hatte, die Stielaugen, die die jungen Männer machten, und den Blick des alten Zeichenlehrers, der jedes Mal, wenn das Mädchen mit seinen unverhüllten Reizen die Haltung wechselte, mit zitterndem Bart fast einem Herzanfall zum Opfer fiel. »Aber dafür muss man natürlich Eintrittsgeld bezahlen. Was glaubst du denn?«
    Doch die Sache war ganz anders. Er hatte die wildesten Erwartungen damit verbunden, ein nacktes Mädchen zu sehen, aber die Sache war letztlich ganz anders. Die Brüste zum Beispiel, die

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