Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
in der Dunkelheit. Victoriens Vater schloss die Tür, wartete stumm eine Weile und stampfte dann vor Freude auf den Boden.
»Die haben wir aber reingelegt! Die haben nichts gemerkt. Victorien, du hast wirklich Talent, tolle Arbeit!«
»Weiß man, warum man eine Schlacht überlebt hat? Nur selten aus Tapferkeit, meistens aus Gleichgültigkeit; aus Gleichgültigkeit des Feindes, der es aus einer Laune heraus vorgezogen hat, jemand anderen zu töten, aus Gleichgültigkeit des Schicksals, das uns dieses Mal verschont hat.«
»Was sagst du da?«
»Das ist der Text, den ich gerade übersetze.
»Deine lateinischen Verse sind Eseleien. Die Pfiffigsten überleben, sonst niemand. Ein bisschen Glück und ein tüchtiges Mundwerk, dann ist es schon fast geschafft. Lass deine alten Römer in Ruhe und wende dich etwas Nützlichem zu. Der Buchhaltung zum Beispiel.«
Victorien arbeitete weiter, ohne es zu wagen, seinen Vater anzusehen. Das Augenzwinkern sollte für ihn die schlimmste Kriegserinnerung bleiben.
Der Onkel kam erneut, aß mit ihnen zu Abend, schlief bei ihnen und verschwand am folgenden Morgen wieder. Niemand wagte es, ihm von der Kontrolle zu erzählen. Wenn er erfahren hätte, dass alles gut verlaufen war, hätte ihm das vermutlich nicht gepasst, es hätte seine Verachtung, wenn nicht gar seinen Zorn hervorgerufen. Der Onkel war brutal, daran waren die damaligen Zeiten schuld; sie waren nichts für zartbesaitete Menschen. In der ganzen Welt wurde die Lage seit fünfzehn Jahren immer bedrohlicher. In den vierziger Jahren erreichte diese Bedrohung eine für den Menschen nur schwer zu ertragende Intensität. Die zartbesaiteten Wesen litten stärker darunter. Sie sackten zusammen, wurden weich und klebrig, verwesten und verwandelten sich in Kompost, der ideale Nährboden für andere, die schneller und wilder wuchsen, damit sie den Wettlauf um den Platz an der Sonne gewannen.
Der Onkel war in den zwei Monaten, in denen Frankreich Krieg geführt hatte, mobilisiert gewesen. Man hatte ihm ein Gewehr anvertraut, das er jeden Abend überprüft, gereinigt und geölt hatte, aber er hatte außerhalb der Schießplätze hinter der Maginot-Linie keinen Schuss abgegeben. Er verbrachte ein Dreivierteljahr in einem Bunker. Mit geschultertem Gewehr bewachte er die Festungen, die so gut angelegt waren dass sie nie eingenommen wurden. Frankreich wurde eingenommen, aber nicht die Befestigungsanlagen des Landes, die eines Vauban würdig gewesen wären und die ohne den geringsten Einschuss in den schönen getarnten Beton aufgegeben wurden.
Drinnen war es richtig gemütlich. Für alles war gesorgt worden. Im vorherigen Krieg hatten die Soldaten zu sehr unter der schlechten Vorbereitung gelitten. Die Schützengräben waren ein solches Chaos aus Schlamm, ein solch unorganisiertes Wirrwarr, so elende Behausungen im Vergleich zu denen des Gegners gewesen, (die man, nachdem man sie eingenommen hatte, bewundernswert sauber, gut abgestützt, gut entwässert vorfand), dass man beschlossen hatte, diesen Rückstand aufzuholen. Alle Probleme, die der vorherige Krieg gestellt hatte, wurden systematisch gelöst. 1939 war Frankreich bereit, den Schlachten von 1915 unter hervorragenden Bedingungen entgegenzusehen. Und daher hatte der Onkel mehrere Monate in eher sauberen, unterirdischen Unterkünften ohne Ratten verbracht, richtigen Zimmern, die nicht so feucht waren wie die aus Lehmboden ausgeschachteten Unterstände, in denen sein Vater verschimmelt war; buchstäblich verschimmelt, mit Pilzen, die ihm zwischen den Zehen wuchsen. Der Tagesablauf wechselte zwischen Alarmbereitschaft, Schießübungen und Sonnenbädern in einem Keller für Ultraviolett-Bestrahlung, den man mit einer dunklen Brille betreten musste. Die Militärärzte waren der Ansicht, dass sich angesichts der Schutzmaßnahmen, in deren Genuss die Garnisonen kamen, Rachitis viel verheerender auswirken würde als feindlicher Beschuss.
In den ersten Maitagen wurden sie in ein weniger befestigtes Waldgebiet verlegt. Das Wetter eignete sich für Waldarbeiten, der Boden blieb trocken und roch gut, wenn man ihn aushob. Sie legten Gräben rings um Artilleristen an, die ihre Geschütze in mit Rundhölzern verstärkten Bodenlöchern verschanzt hatten. Mitte Mai, ohne jemals etwas anderes gehört zu haben, als die Witze der Kameraden, den Gesang der Vögel oder das Rascheln des Windes im Laub, erfuhren sie, dass sie in Kürze überrannt werden würden. Während sie sich hier noch zum
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