Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Decke stieß. Diese beiden Bewegungen lieferten sich in seinem Körper einen erbitterten Kampf, unter dem er litt. Er erwachte am folgenden Morgen keuchend, erschöpft und verbittert.
Victorien Salagnon führte ein stumpfsinniges Leben und schämte sich dessen. Er wusste nicht recht, was tun, sobald er mit der Übersetzung alter Texte fertig sein würde, die ihn bisher noch jeden Tag beschäftigte. Er hätte sich mit Zahlen beschäftigen und das Geschäft seines Vaters übernehmen können, aber er hasste diesen Laden. Er hatte schon immer etwas Widerwärtiges, aber in Kriegszeiten wurde er geradezu abscheulich. Victorien hätte studieren, Diplome ablegen und für den französischen Staat arbeiten können, der den Deutschen unterworfen war, oder für eine Firma, die die deutschen Kriegsanstrengungen unterstützte. 1943 stand Europa im Zeichen Deutschlands und der völkischen Bewegung, jeder war in seinem Volk eingeschlossen wie in der Baracke eines Lagers. Victorien Salagnon würde immer ein Wesen zweiten Ranges sein, ein Besiegter, ohne dass er die Gelegenheit zu kämpfen gehabt hatte, denn unter diesen Bedingungen war er geboren worden. In dem von Deutschland abhängigen Europa lieferten jene, die einen französischen Namen trugen, denen, die einen deutschen Namen trugen, Wein und elegante junge Frauen. Im nationalsozialistischen Europa würde er nie etwas anderes sein als ein Sklave, das war in seinem Namen verwurzelt und würde immer so bleiben.
Er war den Deutschen nicht böse, aber wenn alles so weiterging, würde sein ganzes Leben von seiner Geburt bestimmt sein, und er würde sich nie davon befreien können. Es war höchste Zeit, etwas dagegen zu tun, irgendeine Handlung, irgendeinen Akt des Widerstands zu vollziehen, anstatt murrend den Kopf zu senken. Er sprach mit Chassagneaux darüber, und sie beschlossen – das heißt, Chassagneaux akzeptierte Salagnons Vorschlag ohne Einschränkung –, auf Wände in der Stadt aufrüttelnde Worte zu malen.
Das war nur ein Anfang, es hatte den Vorteil, dass man es schnell und allein ausführen konnte. Ein solcher Akt würde den Franzosen zeigen, dass im Herzen der Städte, da wo die Besatzungsmacht am stärksten verankert war, der Widerstand schwelte. Die Franzosen sind besiegt, sie gehorchen aufs Wort, aber sie sind nicht blind: Das sollte die Botschaft dieser Graffiti sein, für alle deutlich und klar.
Sie besorgten sich Farbe und zwei dicke Pinsel. Das Handelshaus Salagnon hatte so viele Lieferanten, dass es einfach war, einen großen Eimer Metallfarbe zu erhalten, die dickflüssig, gut deckend und wasserfest war, wie derjenige sich ausdrückte, der sie dem Sohn schenkte, im Glauben, den Vater damit zu Dank zu verpflichten. Die Farbe war zwar nicht weiß, sondern dunkelrot. Aber im Jahr 1943 Farbe aufzutreiben, war schon eine Leistung; da durfte man nicht hoffen, auch noch die Farbe wählen zu können. Das würde schon gehen. Sie legten das Datum für den Abend fest, sie schrieben Worte auf kleine Zettel, die sie anschließend hinunterschlucken würden, und machten sich an mehreren Sonntagen auf die Suche nach einer geeigneten Mauer. Sie musste lang genug sein, damit ein ganzer Satz darauf Platz fand, und glatt genug, damit man ihn leicht lesen konnte. Sie durfte sich nicht in einem zu abgelegenem Stadtteil befinden, damit der Satz am Morgen auch gelesen würde, aber auch nicht in einem zu belebten Viertel, damit sie nicht von einer Streife überrascht wurden. Außerdem musste die Mauer von heller Farbe sein, damit sich das Rot gut abhob. Dadurch waren Mauern aus Lehm, aus Bruchsteinen und aus Flusskieseln von vornherein ausgeschlossen. Blieben noch die Fabrikmauern in den östlichen Vierteln und die langen, blassen Mauern der Lagerhallen, an denen die Arbeiter morgens auf ihrem Weg zur Arbeit entlanggingen. Nachts waren diese Straßen leer.
In der vereinbarten Nacht gingen sie dorthin. Im Mondlicht überquerten sie die Rhône und liefen Richtung Osten. Ihre Schritte hallten durch die Nacht, es wurde immer kälter, sie orientierten sich an den Straßennamen, die sie auswendig gelernt hatten, ehe sie sich auf den Weg machten. Die Pinsel störten sie beim Gehen, die Arme taten ihnen von dem schweren Farbeimer weh, sie mussten oft die Hand wechseln und die andere schnell in die Tasche stecken. Als sie bei der Mauer ankamen, die sie bemalen wollten, hatte der Mond seine Bahn am Himmel ein ganzes Stück fortgesetzt. An jeder Straßenecke versteckten sie sich und
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