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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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wollen uns schlagen. In dem Land, in dem es sich so gut leben lässt und in dem die Gesprächskunst so hochgeschätzt wird, wollen wir nicht mehr zusammenleben.
    Mir ist das völlig egal, ich habe Schmerzen, ich gehe durch die Stadt und rede, ich rede, um etwas verdunsten zu lassen, an dem ich sonst ertrinke; und wenn ich an mein Land denke, dann nur weil ich ein Thema brauche, über das ich reden kann, denn ich darf auf dem ganzen Weg durch Lyon nicht aufhören zu reden, sonst wäre ich gezwungen zu sabbern, um nicht zu ersticken.
    Ich denke an Frankreich; aber wer kann mit vollem Ernst behaupten, er denke an Frankreich, ohne Gelächter zu ernten? Nur große Staatsmänner, und auch die nur in ihren Memoiren. Wer kann, abgesehen von de Gaulle, mit vollem Ernst behaupten, er denke an Frankreich? Ich habe nur Schmerzen und muss unterwegs reden, während ich zur Nachtdienst-Apotheke gehe, die mich erlösen wird. Und daher rede ich über Frankreich, wie de Gaulle es getan hat, indem ich Personen und Zeiten durcheinanderwerfe und die Grammatik verwirre, um die Spuren zu verwischen. De Gaulle ist der größte Lügner aller Zeiten, aber Romanautoren sind nun mal Lügner. Er hat durch die Macht der Worte Stück für Stück all das geschaffen, was wir benötigten, um im 20. Jahrhundert zu leben. Er hat uns die Gründe für unser Zusammenleben geliefert – hat sie für uns erfunden –, und die Gründe, auf uns stolz zu sein. Und heute leben wir in den Trümmern dessen, was er geschaffen hat, in den zerrissenen Seiten des Nationalepos, das er geschrieben hat und das wir für eine Enzyklopädie gehalten haben, für eine exakte Wiedergabe der Realität, dabei handelte es sich nur um eine Erfindung; eine Erfindung, an die zu glauben, ein schöner Traum war.
    Das Zuhause gründet auf dem Gebrauch einer Sprache. Frankreich ist ein Land des Bücherkults. Wir haben zwischen den Seiten von de Gaulles Memoiren gelebt, in einer Papierkulisse, die er mit seinen Worten schuf.
    Ich gehe mit entzündeter Kehle durch die Dunkelheit, und die stumme Gewalt, die uns ständig begleitet, begleitet auch mich. Sie ist unter mir, unter meinen Schritten, unter dem Bürgersteig: der menschenfressende Maulwurf der französischen Gewalt kriecht unter meinen Füßen umher, ohne sich zu zeigen. Ab und zu kommt er an die Oberfläche, um Luft zu schnappen und eine Beute zu erhaschen, aber er ist immer da, selbst wenn man ihn nicht sieht. Man hört sein Scharren. Der Boden ist nicht fest, er kann jeden Augenblick unter uns nachgeben und der Maulwurf kann herauskommen.
    Genug! Genug damit! Aber ich kann nichts hinunterschlucken. Mein Speichel lässt sich nur nach draußen loswerden, er löst sich im Geschwätz auf, ich tausche meinen Schmerz gegen einen Wortschwall, und dieser Schwall aus meinem Mund bewahrt mich davor, in meinen eigenen Sekretionen zu ertrinken. Ich bin vom französischen Genius beseelt, finde sprachliche Lösungen für meine Schmerzen, und überlebe eine mir in den Sommermonaten zugezogene Krankheit der kühlen Jahreszeit mittels Geschwätz.
    Endlich erreiche ich die Nachtdienst-Apotheke. Es ist wohl besser, wenn ich nun den Mund halte. In der Schlange, in der Öffentlichkeit, lasse ich mir die Schmerzen nicht anmerken.
    Die dicht gedrängte Schlange stand im Halbkreis in der geschlossenen Apotheke, in der kaum für uns alle Platz war. Wir bemühten uns, dem Blick der anderen auszuweichen, und behielten unsere Gedanken für uns, da sie von einem gewissen Argwohn motiviert waren. Denn wer geht schon in eine Nachtdienst-Apotheke, außer menschlichen Wracks, die Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden können? Außer Drogensüchtigen, die Wirkstoffe suchen, die sie besser kennen als Medizinstudenten? Außer Kranken, die nicht bis zum folgenden Tag warten können, also Kranken, die sofortige Hilfe benötigen, mit anderen Worten, große vereiterte Körper, die alles anstecken, was sie berühren? Und all das dauerte, dauerte viel zu lange, denn die Leute kamen nur schleppend in der Nachtdienst-Apotheke voran, die Bewegungen verlangsamten, es gab kaum noch Bewegung, so gut wie gar keine mehr, und die Unruhe wuchs, die Unruhe füllte den kleinen Raum aus, für den wir viel zu viele waren, in dem wir hinter geschlossener Tür Schlange standen.
    Ein Laborant mit einem afrikanischen Namen versah seinen Dienst, ohne je die Stimme zu erheben oder seinen Arbeitsrhythmus zu beschleunigen. Sein rundliches, glattes, schwarzes Gesicht bot den ungeduldigen

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