Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
ziehen.
KOMMENTAR III
Die Verschreibung eines schmerzstillenden Mittels in der Nachtdienst-Apotheke
D as Folgende fand eines Nachts auf der Straße statt; in einer Sommernacht, als ich durch die Stadt ging und krank war und wegen der verheerenden Folgen einer Virusattacke auf meine Kehle meinen Speichel nicht mehr, aber überhaupt nicht mehr hinunterschlucken konnte. Ich musste reden, damit er sich verflüchtigte, ununterbrochen schwatzen, um nicht zu ertrinken. Ich ging mit offenem Mund durch die Sommernacht und nahm verschwommen eine Wirklichkeit wahr, die mir noch nie aufgefallen war. Sie war mir bisher verborgen geblieben, ich hatte mich schon immer in ihr bewegt, sie aber nie erkannt. Aber in jener Nacht war ich krank, meine Kehle durch das Eindringen eines Virus verwüstet, und ich musste mit offenem Mund laufen, damit sich mein Speichel verflüchtigte, ich konnte nichts hinunterschlucken; ich hielt Selbstgespräche in den Straßen von Lyon, während ich auf dem Weg zu einer Nachtdienst-Apotheke war, um Medikamente zu holen.
Wir lieben den Aufruhr; wir lieben den Kitzel des Aufruhrs. Wir träumen vom Bürgerkrieg, aber nur im Spiel. Und falls dieses Spiel Todesopfer fordert, wird es dadurch erst recht interessant. Das von Charles Trenet besungene »schöne Frankreich, das Land meiner Kindheit«, wird seit jeher von furchtbarer Gewalt heimgesucht, so wie meine Kehle von dem schmerzhaften Virus zerfurcht wird, der mich am Schlucken hindert. Und daher gehe ich mit offenem Mund durch die Stadt und rede.
Wie kann ich es wagen, über mein ganzes Land zu sprechen?
Ich spreche bloß über meine Kehle. Ein Land ist nur der Gebrauch einer Sprache. Frankreich ist der Raum, in dem die französische Sprache gesprochen wird, und meine verwüstete Kehle ist der materiellste, realste, greifbarste Ort dafür, und in jener Nacht ging ich durch die Stadt, um sie behandeln zu lassen, um Medikamente in der Nachtdienst-Apotheke zu holen. Es war Juni, die Nächte waren lau, es gab keinen Grund, sich zu erkälten. Ich muss wohl bei der Demo erkrankt sein, wegen des Tränengases und des vielen Schreiens.
Wir Franzosen verstehen es, schöne Demonstrationen zu veranstalten. Niemand auf der Welt organisiert so schöne, denn für uns sind sie eine mit höchstem Genuss ausgeübte staatsbürgerliche Pflicht. Wir träumen von Straßentheater, von Bürgerkrieg, von Parolen, die wie Abzählreime wirken, und vom Volk auf der Straße; wir träumen von Dachziegeln, Pflastersteinen und großen Schraubenmuttern, die durch die Luft fliegen, von in einer Nacht errichteten geheimnisvollen Barrikaden und heldenhafter Flucht im Morgengrauen. Das Volk ist auf der Straße, die Menschen sind in Wut, und hopp, lasst uns auf die Straße gehen, um den heroischen letzten Akt der französischen Demokratie zu spielen! Wenn in anderen Sprachen »Demokratie« mit »die Macht des Volkes« übersetzt wird, ist die französische Übersetzung aufgrund des Erfindungsreichtums der Sprache, die meiner Zunge zu eigen ist, ein Imperativ: »Die Macht dem Volk!« Und das wird draußen gespielt, mit großem Kraftaufwand; mit der klassischen Kraft des Straßentheaters.
Schon seit jeher lässt sich unser Staat auf keine Diskussion ein. Er verfügt, leitet und kümmert sich um alles. Aber er lässt sich nie auf eine Diskussion ein. Der Staat wendet Gewalt an; der Staat ist großzügig; jeder kann in den Genuss seiner Freigebigkeit kommen, aber er lässt sich auf keine Diskussion ein. Das Volk auch nicht. Die Barrikaden verteidigen die Interessen des Volkes, und die militärisch organisierte Polizei ist dazu ausgebildet, die Barrikaden zu stürmen. Niemand will zuhören; wir wollen uns schlagen. Sich zu einigen, heißt nachzugeben. Den anderen zu verstehen, bedeutet, seine Worte in den Mund zu nehmen, und das heißt, einen von der Macht des anderen vollen Mund zu haben und schweigen zu müssen, während er spricht. Das ist erniedrigend, das verabscheut man. Der andere muss schweigen, muss sich unterwerfen; man muss ihn zu Fall bringen, ihm den Mund stopfen, ihm die Gurgel durchschneiden, um ihn zum Schweigen zu bringen, ihn in eine Strafkolonie in stickigen Wäldern auf einer Insel verbannen, wo niemand ihn schreien hört, bis auf die Vögel oder die Ratten. Nur die kriegerische Auseinandersetzung ist edel und der Sturz des Gegners; und letztlich sein Schweigen.
Der Staat lässt sich auf keine Diskussion ein. Die Gesellschaft schweigt; und wenn es ihr nicht gut geht, wird
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