Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Schal vermummte junge Männer sich bedienten, als sei es ihr Vorratskeller, ehe auch sie vor anderen jungen Männern mit energischer Kinnlade flohen. Und diese rannten schneller, trugen orangefarbene Armbinden, und wenn sie einen der vermummten jungen Männer auf den Boden geworfen hatten, holten sie Handschellen aus der Tasche. Ich rannte weiter, deshalb war ich ja hergekommen, eine Demo ohne überstürzte Flucht ist eine misslungene Demo, ich entkam über ein paar Seitenstraßen.
Der Himmel verfärbte sich rosa, die Dunkelheit brach an, ein kalter Wind fegte die Tränengasschwaden fort. Schweiß rann mir den Rücken hinab, und die Kehle tat mir weh. Autos, in denen vier Männer mit energischer Kinnlade saßen, fuhren im Schritttempo durch das Viertel, in dem die Demo stattgefunden hatte, und jeder von ihnen blickte in eine andere Richtung; sie fuhren über Glasscherben. Brandgeruch schwebte in der Luft, auf dem Boden lagen an manchen Stellen Kleidungsstücke, Schuhe und ein Motorradhelm, und hier und dort waren Blutflecken zu sehen.
Und ich hatte Halsschmerzen, furchtbare Halsschmerzen.
Die Regierung, die zu weit gegangen war, machte einen Rückzieher; sie hob die in Eile getroffenen Maßnahmen durch in panischer Angst getroffene Gegenmaßnahmen auf. Das Ganze führte wie üblich zu einem gewissen Gleichgewicht: Der ohne Diskussion zustande gekommene Kompromiss war unwirksam und lästig. Der französische Erfindungsgeist ersinnt Gesetze so wie er Städte baut: die Boulevards des Code Napoléon bilden das prächtige Zentrum, und ringsumher erstrecken sich provisorische, aufs Geratewohl errichtete, schlecht konzipierte Bauwerke, die durch ein Labyrinth von Kreiseln und unentwirrbaren Einbahnstraßen miteinander verbunden sind. Man improvisiert, das Recht des Stärkeren hat Vorrang vor dem Gesetz, und die Unordnung erhöht sich durch die Häufung von Sonderfällen. Man behält alles bei; denn es wäre eine Provokation, das Gesetz anzuwenden, und es aufzuheben, hieße, das Gesicht zu verlieren. Daher behält man das Gesetz bei.
Oh! Ich hatte solche Schmerzen!
Dabei war es Juni, und ich litt an einer Krankheit der kühlen Jahreszeit, die Kehle tat mir weh, meine Kehle war angegriffen worden, die Kehle als Organ, die Kehle als Zielscheibe. Mit einem Rezept in der Tasche ging ich durch die Straßen von Lyon, um Medikamente in einer Nachtdienst-Apotheke zu holen. Ich ging mitten in der Nacht durch die Stadt und hielt den Mund offen, damit sich mein Speichel verflüchtigte. Ich konnte nichts hinunterschlucken, nicht einmal den eigenen Speichel, die natürliche Funktion des Mundes war vom Schmerz blockiert, und daher ging ich mit offenem Mund und hielt Selbstgespräche, damit sich mein Speichel verflüchtigt und ich nicht an meinen eigenen Sekretionen ertrinke.
Ich ging die Bürgersteige entlang durch die Dunkelheit, umgeben von umherirrenden Schatten; ich wich zur Seite, um nicht mit diesem Treibgut zusammenzustoßen, den eng umschlungenen Pärchen, den ruhelosen Einzelgängern, den aufgeregten Gruppen. Ich begegnete ihnen, ohne sie richtig wahrzunehmen, so sehr beschäftigte mich der Schmerz, und ich begegnete weißen, mit blauen und roten Streifen dekorierten, im Schritttempo fahrenden Wagen, in denen Männer in Overalls saßen und alles beobachteten. Das Wort POLIZEI war in großen Buchstaben auf die Fahrzeuge gemalt und auch auf die am Straßenrand parkenden Mannschaftswagen, die genauso dekoriert waren und in denen genauso gekleidete junge Männer die Schatten überwachten.
Schönes Frankreich! Geliebtes Land der Frische und der Kindheit! Mein schönes Frankreich, voller Ruhe und Ziviler … schon wieder kommt ein Wagen voller athletischer junger Männer im Schritttempo näher … schwebt lautlos durch die wie ein Aquarium wirkende Dunkelheit bis zu mir, betrachtet mich und fährt weiter. Die Sommernächte sind drückend und gefährlich, und die Straßen des Stadtzentrums werden streng überwacht, die ganze Nacht fährt die Polizei Streife: ihre Anwesenheit erlaubt die Befriedung. Ja die Befriedung ! Wir betreiben eine Politik der Befriedung im Herzen der französischen Städte, im Herzen der Macht, denn der Feind ist überall. Wir kennen keine Gegner, nur Feinde, wir wollen keine Gegner, mit denen man endlose Diskussionen führen müsste, sondern Feindschaft, denn die kann man mit Gewalt bekämpfen. Mit dem Feind redet man nicht. Man bekämpft ihn; man tötet ihn, und er tötet uns. Wir wollen nicht reden, wir
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