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Die Frau am Tor (German Edition)

Die Frau am Tor (German Edition)

Titel: Die Frau am Tor (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Worthmann
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Worte, die er nicht einmal denken konnte, geschweige denn, dass er sie je über die Lippen gebracht oder gar geschrieben hätte, höchstens als ironische Zitate. Doch zumindest in der ersten Zeit störte ihn das nicht allzu sehr. Fast nichts an ihr störte ihn zunächst. Selbst als er nach relativ kurzer Zeit die Entdeckung machte, dass die Verheißung, die ihre äußere Erscheinung suggerierte, nicht hunderprozentig den Fakten ihrer erotischen Fähigkeiten standhielt, fand er sich damit ab. Er fand sich mit so manchem ab und gewöhnte sich daran.
    Sein Leben nahm einen Verlauf, von dem man sagen konnte, dass er sich in einigermaßen geordneten Bahnen vollzog – bis zu der Nacht, die an diesem Morgen zu Ende gegangen war, ohne für ihn auch nur eine Minute Schlaf bereit zu halten, um ihm stattdessen die Begegnung mit einer Frau zu bescheren, die er im ersten Moment für eine Schlafwandlerin gehalten hatte.
    Er musste etwas unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen, am besten etwas, das ihn körperlich so müde machte, dass er am Nachmittag ein paar Stunden schlafen konnte. Das Nächstliegende wäre gewesen, zum Schwimmen an den Schlachtensee zu fahren, so wie er es sonst immer tat. Doch der See lag am Rande des Grunewalds, und dorthin wollte er auf gar keinen Fall, obschon kaum anzunehmen war, dass man den Toten bereits gefunden hatte. Und selbst wenn, hätte ihn das rein theoretisch nicht weiter stören müssen. Aber allein der Gedanke, sich jetzt in diese Gegend zu begeben, hatte etwas Abschreckendes für ihn. Nach einigem Ringen mit sich selbst beschloss er, trotz der Hitze ins Fitnessstudio zu gehen und sich dort auszupowern. Also packte sein Sportzeug zusammen und stieg in seinen Wagen, weil es doch ein ganzes Stück dorthin war und ihm der Sinn jetzt nicht nach einem Fußmarsch stand.
    Er besaß einen alten Alfa Romeo GTV in dem markentypischen klassischen Rot, den er sich seinerzeit von dem Honorar für sein China-Buch zugelegt hatte. Der Wagen war bereits damals für sein Alter fast sündhaft teuer gewesen, und im Lauf der Jahre hatte er mindestens noch einmal so viel Geld hineingesteckt, um ihn penibel in Schuss zu halten. Alles zusammen hätte gewiss für die Anschaffung eines neueren, schnelleren Sportfahrzeugs, entsprechend den aktuellen Standards, gereicht, doch er dachte gar nicht daran, sich von seinem Alfa zu trennen. Inzwischen trug es das berühmte H-Kennzeichen für echte Oldtimer und viele beneideten ihn um dieses Schmuckstück und nannten es “eines der letzten richtigen Autos”. Er mochte die Form von Unvernunft, die sich im Besitz eines solchen Wagens ausdrückte.
    Der nächste Weg zum Studio führte nicht einmal andeutungsweise durch die Kolbestraße. Trotzdem ertappte er sich dabei, dass er genau diesen Umweg nahm. Aber als er es bemerkte, war es bereits zu spät. Er hatte den Wagen offenbar ganz unbewusst in diese Richtung gelenkt, und er erschrak förmlich, als er auf einmal mit verminderter Geschwindigkeit durch die Straße rollte, durch die er gut zwölf Stunden zuvor geschlendert war, ohne zu ahnen, wie dieser nächtliche Spaziergang enden würde. Er warf einen forschenden Blick zu dem Haus hinüber, aber da war nichts, es lag dort still und friedlich, und er trat rasch aufs Gaspedal, irritiert über sich selbst.
    Im Studio stellte er ziemlich rasch fest, dass es ihm schwerfiel, seine letzten verbliebenen Energiereserven zu mobilisieren. Wenn es etwas gab, das ihn besonders unangenehm daran erinnerte, dass er den Scheitelpunkt überschritten hatte und dabei war, ein älterer Mann zu werden, dann war es die Erkenntnis, dass sich die Regeneration deutlich verlangsamte und er immer längere Pausen brauchte, um sich nach Phasen der Erschöpfung zu erholen. Dennoch zwang er sich, wenigstens eine halbe Stunde mit den Gewichten zu arbeiten und eine weitere halbe Stunde auf dem Crosstrainer zuzubringen. Danach war er nicht nur sehr müde, sondern hatte plötzlich auch großen Hunger. In einem italienischen Restaurant in der Nähe seiner Wohnung, das er normalerweise mied, da es nicht übermäßig gut war, bestellte er sich eine Portion Spaghetti bolognese und einen Salat und schlang beides herunter, wie es sonst nie seine Art war. Er aß normalerweise immer langsam und bewusst und genoss das Essen, egal, ob es sich um eine teure Mahlzeit in einem Lokal oder ein Müsli zu Hause in der Küche handelte. Doch an diesem Tag fühlte er sich so ausgelaugt und leer, dass er die Nahrungszufuhr wie

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