Die Frau an Seiner Seite
wie in einem Glaskasten oder Käfig, ohne entkommen zu können. Die Mutter litt unsäglich unter dem gesellschaftlichen Absturz, den sie nach außen hin mit Arroganz und einem überzogenen Ehrbegriff zu kaschieren suchte. Sie war zu stolz, die Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen. Eher wäre sie verhungert als zuzugeben, dass sie nichts zu essen hatte.
Für Hannelore hieß das: Niemals auffallen, niemals klagen, alles erdulden. Sie musste sich dem täglichen Diktat der Mutter ohne Widerworte unterordnen. Nachbarn aus Mutterstadt beschreiben eine Familie Renner, an deren Spitze nicht mehr der einst so mächtige HASAG-Direktor stand, der sich nun als Hilfsarbeiter durchschlagen musste, sondern dessen vermutlich selbst schwer traumatisierte Ehefrau. Die wenigen Menschen, die den Flüchtlingen nahestanden, vermuten, dass sie mit ihren althergebrachten und durch die NS-Zeit geprägten Erziehungsmethoden für Hannelore nach den schlimmen Belastungen bei der Flucht für weitere Verstörungen sorgte. Das Leben der »blonden Germania«, wie das Mädchen mit seinen langen Zöpfen in Mutterstadt genannt wurde, war wegen der ungebrochenen Dominanz der Mutter alles andere als angenehm. Die schlimmste Zeit ihres Lebens, die mit der Flucht von Döbeln Richtung Westen begonnen hatte, setzte sich in Mutterstadt auf gewisse Weise fort – unter dem strengen Regiment der für Hannelore mitunter unberechenbaren Mutter. Nicht nur Fahrschülerinnen aus der kleinen pfälzischen Gemeinde hatten Mitleid mit Hannelore. Gleiches galt für die Erwachsenen aus der Nachbarschaft, die das Gängeln des Kindes durch die dominante Irene hautnah erlebten.
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Während Hannelore im kalten Winter 1945/46 das Gymnasium besuchte und sich dem alles bestimmenden Machtanspruch der Mutter zu unterwerfen hatte, ging Vater Renner Gelegenheitsarbeiten nach. Er reparierte, was immer sich anbot, vor allem Landmaschinen. Als Gegenleistung bekam er von den Bauern die so dringend benötigten Lebensmittel. Er war ein Meister des Improvisierens, half seinem Bruder in der Werkstatt und fand schon bald eine Anstellung als Hilfsarbeiter bei der Firma Johann Brendel im benachbarten Limburgerhof. Mit dem Fahrrad fuhr er in den kleinen Ort mit 4000 Einwohnern und wurde überall dort eingesetzt, wo »Not am Mann war«. Die Firma Brendel war ein Spezialgeschäft für Laubsägerei und lieferte alle erforderlichen Hölzer und Werkzeuge für Laubsägearbeiten. Etwa 30 bis 35 Personen waren in diesem kleinen Unternehmen beschäftigt. Wilhelm Renner, der erfindungsreiche Hilfsarbeiter in einem ihn unterfordernden Job, kam auf die Idee, ein neues Produkt für seine Firma zu entwickeln. Eine Schultafel aus Schiefer, die nicht mehr mit Wasser, sondern mit einem trockenen Tuch gereinigt werden konnte und sofort wieder benutzbar war. Mit dieser erstaunlichen Erfindung wird der Name von Hannelores Vater in der Pfalz bis heute in Verbindung gebracht. Die Firma Brendel hatte in den Krisenjahren 1928 bis 1932 besondere Umsatzsteigerungen erlebt, weil viele Arbeitslose versuchten, sich Einnahmen durch den Verkauf von selbst gebastelten Holzarbeiten zu verschaffen. Nach dem Krieg ging der Umsatz so stark zurück, dass die Firma Anfang 1951 Insolvenz anmelden musste. Auch Wilhelm Renner verlor damals seinen schlecht bezahlten Aushilfsjob und blieb für längere Zeit arbeitslos. Er war verbittert und für die Mutterstädter ein gebrochener Mensch. In ihren Augen wurde er mit einem Berufsverbot der französischen Besatzungsmacht für Verbrechen bestraft, wobei niemand so recht wusste, was er tatsächlich im Dritten Reich gemacht hatte. Auch in Renners Geburtsort hält sich bis heute das Gerücht, er sei Erfinder der Panzerfaust gewesen, was nachweislich nicht den Tatsachen entspricht.
Seit seiner Flucht vor den sowjetischen Besatzungstruppen musste der Pfälzer mit der Angst vor einer Festnahme leben. Selbst über die Zonengrenzen hinweg war die Gefahr allgegenwärtig, entdeckt und den betreffenden Behörden überstellt zu werden. Das Döbelner Amtsgericht hatte die Kriminalpolizei der Stadt Leipzig am 20. Oktober 1945 »um recht baldige genaue Auskunft in politischer Hinsicht usw.« über den »Wehrwirtschaftsführer« und »Betriebsdirektor« der HASAG-Werke Wilhelm Renner gebeten. In ihrem Antwortschreiben neun Tage später teilten die Behörden dem Amtsgericht mit, dass »nach den vorliegenden politischen Unterlagen, die jedoch nicht lückenlos« seien, gegen Wilhelm Renner »nichts
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