Die Frau an Seiner Seite
tatsächlich gespielt und wie sehr er als hochstehender Industrieller in einem Rüstungsbetrieb die nationalsozialistische Ideologie verinnerlicht haben musste, erfuhr in der Pfalz niemand. Auch Hannelores Mutter dürfte großes Interesse daran gehabt haben, ihre politische Einstellung während der Nazizeit zu verschweigen und ihre NSDAP-Mitgliedschaft zu verheimlichen.
Von all diesen Verdrängungsmechanismen bekam Hannelore nicht wirklich etwas mit. Sie hatte ohnehin genügend traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und dies ohne jegliche Hilfe. Dabei hätte sie dringend eines psychotherapeutischen Beistandes bedurft, um die Flucht mit all ihren scheußlichen Facetten und seelischen Verletzungen zu verarbeiten. Hannelore aber blieb nichts, als über diese Vorfälle zu schweigen, das Geschehene »abzuspalten« – zumindest vorübergehend. Die Renners, jeder auf seine eigene Art und Weise, bemühten sich mit allen Kräften, den Absturz der Familie nach 1945 zu überstehen. Der einzig gangbare Weg war, Vergangenes zu vergessen und den Blick nach vorne zu richten.
* * *
Im Oktober 1945 fuhr Irene Renner nach Ludwigshafen, um ihre Tochter in der städtischen Mädchenoberrealschule anzumelden. Nachweise über frühere Schulbesuche in Leipzig und Döbeln konnte sie nicht vorlegen. Irene verwies auf ihre abenteuerliche Flucht vor den alliierten Truppen, auf der Zeugnisse – wie viele andere Dokumente auch – verloren gegangen seien. Sie versprach der Schulleitung, sich um entsprechende Papiere aus der sowjetischen Besatzungszone zu bemühen, sehr wohl wissend, dass dies ein illusorisches Unterfangen sein würde. Doch wider Erwarten schickte die Döbelner Schulleitung einige Wochen später Zeugnisse und weitere Dokumente nach Mutterstadt, die dokumentierten, dass Hannelore Renner vom 24. Februar 1944 bis zum 31. August 1945 das Gymnasium besucht habe und dann unbekannt verzogen sei. Den August-Termin hatte man offenbar willkürlich festgesetzt, er entsprach jedenfalls nicht den Fakten. Aus der Hauptbuch-Nummer 6642 geht auch hervor, welche Klasse die Renner-Tochter zuletzt besucht hatte. Da diese Angaben bei der Anmeldung noch nicht vorlagen, gelang es Irene Renner, die Tochter selbstbewusst aber wahrheitswidrig einfach zwei Klassen höher einzustufen. Hannelore übersprang zwei Schuljahre und war fortan in der 30 Schülerinnen zählenden Klasse immer die Jüngste. Während die meisten anderen Schüler, die unter den Kriegswirren und dadurch bedingten Schulwechseln gelitten hatten, höchstens ein Jahr überspringen konnten, war es Irene gelungen, für Hannelore eine Sonderbehandlung durchzusetzen. Das stieß bei den Klassenkameradinnen, vor allem aber bei deren Eltern, nicht gerade auf Gegenliebe. Schnell war die Rede von einer Bevorzugung der Renner-Tochter.
Um von Mutterstadt nach Ludwigshafen in die Schule zu kommen, musste Hannelore eine einstündige beschwerliche Reise mit der Eisenbahn auf sich nehmen. In Mundenheim wurde umgestiegen, vom Ludwigshafener Bahnhof ging es zu Fuß zur Schule. Täglich waren die Dreizehnjährige und ihre Klassenkameradinnen über zwei Stunden unterwegs. Bei den Mitschülerinnen hinterließ Hannelore dabei einen irritierenden Eindruck. Sie saß im Zug immer allein in einer Ecke und beteiligte sich grundsätzlich nicht an gemeinsamen Spielen wie »Stadt, Land, Fluss«. Nie sah man sie lachen. »Sie war das unglücklichste und traurigste Kind, das mir in meiner Jugendzeit begegnet ist«, erinnert sich eine gleichaltrige Fahrschülerin aus Mutterstadt. Vergebens bemühten sie sich um Gespräche mit ihr, luden sie ein zu den Spielen, mit denen die Fahrzeit verkürzt werden sollte. Das Flüchtlingskind reagierte mit totaler Abschottung und blieb mit dieser Haltung für alle ein großes Rätsel. Auch im Laufe der Jahre änderte sich an dieser Flucht in die Einsamkeit und an dieser unmissverständlichen Gesprächsverweigerung wenig. Hannelore blieb eine Außenseiterin, die nicht nur in der Schule, sondern auch in Mutterstadt so gut wie keine Bekannten oder gar Freundinnen hatte. Begünstigt wurde dieses Rückzugsverhalten auch durch Hannelores Mutter, die für strenge Distanz zu allen und allem sorgte. Irene Renner galt im Ort als äußerst stolze und geradezu hochnäsige Fremde, die ihre Tochter vereinsamen ließ, sie von allen äußeren Einflüssen fernhielt, nach ihrem Willen und Wollen gängelte und so am Selbstständigwerden hinderte. Hannelore lebte während dieser Mutterstädter Jahren
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