Die Frau an Seiner Seite
auf ihre Anwesenheit verzichtet hätten. Ein zwei Jahre jüngerer Knabe büxte sogar regelmäßig aus, wenn er erfuhr, dass das vornehme Flüchtlingskind im Anmarsch war. Hannelore focht das nicht weiter an, sie zeigte sich immer von ihrer besten Seite, verdrängte, was ihr nicht gefiel und passte sich an. Obwohl sie perfekt sächseln konnte, vermied sie es, diesen Dialekt in ihrer neuen Heimat zu sprechen. Sie konnte wunderbare Geschichten aus Leipzig erzählen und sparte nicht an Worten, wenn sie über den Verlust ihrer Freundinnen, ihrer Heimat, ihrer Wohnung, ihrer Spielzeuge und ihrer Bücher berichtete.
Während sich Hannelore rasch einfügte, litten die Eltern unter der neuen Situation. Das Kind spürte, wie sehr sich der Vater veränderte, wie er mit den schwierigen Lebensbedingungen rang und wie schlecht die Mutter mit den Gegebenheiten zu Recht kam. Vor allem Irene tat sich schwer, sich in das bäuerlich-handwerkliche Milieu von Mutterstadt einzufügen. Nachbarn erinnern sich noch heute, dass sie sich in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper bewegte.
Natürlich verfügte der ehemalige Spitzenverdiener des Leipziger HASAG-Unternehmens über finanzielle Rücklagen und hatte Erspartes noch rechtzeitig sicherstellen und mit in die Pfalz nehmen können. Doch was nützte den Menschen im Nachkriegsdeutschland noch so viel Geld, wenn es nichts mehr wert war, wenn es nichts zu kaufen gab. Gerade in der französischen Besatzungszone war die Ernährungslage alles andere als rosig. Die ersten beiden Nachkriegsjahre unter französischer Besatzung waren für die Bevölkerung äußerst schwierig. Hungern gehörte für viele Menschen zum Alltag. Die Situation wurde dadurch verschärft, dass die Franzosen nach der Übernahme der Pfalz im Juli 1945 alle erdenklichen Güter und Nahrungsmittel für ihre Truppen requirierten, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der notleidenden Bevölkerung. Der Hunger erreichte 1947 seinen Höhepunkt, als infolge extremer Trockenheit auch noch die Kartoffelernte missriet. Die Menschen erhielten damals gerade noch die Hälfte der Kalorienmenge, die ihnen während des Krieges zugeteilt worden war. Da traf es sich gut, dass sich Hannelore und ihre Eltern fest auf die Hilfe und Unterstützung gutwilliger Verwandter verlassen konnte.
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Im Melderegister von Mutterstadt ist dokumentiert, dass die Renners vom 16. Juli 1945 an zunächst in der Neustadtstraße 65 bei Familie Bäcker wohnte und am 29. November 1945 in das Haus der Familie Schmitt in den Neuweg 2 umzog, wo sie die nächsten Jahre verbringen sollten. In diesem Dokument ist auch die Religionszugehörigkeit der Familie festgehalten. Für Wilhelm Renners Aufstieg auf der NS-Karriereleiter war es von Vorteil, keiner christlichen Religionsgemeinschaft anzugehören. Gleichzeitig lehnten es die Nazis ab, mit »gottlosen, ungläubigen Konfessionslosen« auf eine Stufe gestellt zu werden. Die NS-Ideologen schufen daher einen eigenen Begriff: »gottgläubig«. Wilhelm war – wie seine Eltern und Geschwister – getauft und Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche. In seinem fünfzigsten Lebensjahr hatte er auf dem Standesamt Leipzig am 19. September 1940 seinen Austritt aus der Kirche erklärt. Warum er diesen Schritt vollzog, lässt sich nur vermuten. Angeblich hatte ihm sein Chef und Förderer Paul Budin den Austritt nahegelegt, um alle Voraussetzungen für weitere Karriereschritte zu erfüllen. »Gottgläubig« war die amtliche Religionsbezeichnung für ein konfessionsloses NSDAP-Mitglied. Mit Erlass vom November 1936 war diese Bezeichnung für die »arteigene Frömmigkeit des deutschen Wesens« offiziell festgelegt worden. Damit sollte dokumentiert werden, dass man mit einem Kirchenaustritt nicht automatisch zu einem »Ungläubigen«, »Freidenker«, »Atheisten« oder einem »Anhänger der materialistischen Weltanschauung« wurde. Der »Gottgläubige« brauchte keine Gottesdienste und keine Glaubensriten – an deren Stelle trat die »Identifikation mit der Volksgemeinschaft«. Nicht kirchliche Feiertage wurden begangen, sondern Feste, die in der nationalsozialistischen Ideologie verankert waren und die »Volksgemeinschaft« stärkten. Dabei spielten nicht nur Feiern im Familienkreis eine Rolle, sondern auch solche, die den Jahreslauf markierten (Frühlingsfeste, Sonnwendfeiern, Erntedankfest), oder an nationalen Feierstunden erinnerten (»Machtergreifung«, Führergeburtstag, Gedenken zur gescheiterten »nationalen Revolution«
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