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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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müden Augen. »Jedenfalls kannst du deiner Freundin Tilda sagen, dass ihr Bruder in Sicherheit ist.«
    Um halb zehn kehrten Pitt und Narraway müde und ausgelaugt in die Keppel Street zurück. Sie frühstückten rasch, dann führte Charlotte sie in die Gegend von Seven Dials, zeigte ihnen den Weg durch die Gasse und in den Hof. Diesmal fand sie die richtige Tür ohne die geringsten Schwierigkeiten, und schon bald standen sie vor dem niedergebrannten Kaminfeuer. Sandeman stierte mit bleichem Gesicht an ihnen vorbei in die Ferne. In seinen Augen lagen Qual und Elend.
    Obwohl ihm vermutlich klar gewesen war, nachdem er ihr von Garricks Alpträumen berichtet hatte, dass sie zumindest in Begleitung
ihres Mannes zurückkommen würde, hatte Charlotte unwillkürlich das Gefühl, auch ihn hintergangen zu haben. Sie sah zu Pitt hinüber und erkannte Mitgefühl auf seinen Zügen. Als sich ihre Blicke trafen, lag in seinen Augen nicht der geringste Vorwurf. Er begriff den Kummer, den sie empfand, wie auch den Grund dafür.
    Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wandte sich ab. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich ihren Gefühlen hinzugeben; sie waren hier belanglos.
    »Ich muss unbedingt wissen, was geschehen ist, Mr Sandeman«, sagte Narraway ohne die geringste Nachgiebigkeit in der Stimme. »Ganz gleich, was ich empfinde oder wünsche – hier kommt es auf nichts anderes als die Wahrheit an.«
    »Das ist mir bekannt«, sagte Sandeman. »Eigentlich musste man damit rechnen, dass die Sache eines Tages ans Licht kommen würde. Die Toten kann man begraben, nicht aber die Schuld.«
    Narraway nickte. »Über das Schweineopfer und die Entweihung des Heiligtums sind wir im Bilde. Was ist danach geschehen?«
    Sandeman sprach, als sei der Schmerz nach wie vor sein ständiger Begleiter und fresse an seinen Eingeweiden. »Eine einheimische Frau, die von der Pflege eines Kranken zurückkehrte, hat den Schein unserer Fackeln bemerkt und ist gekommen, um nachzusehen. Sie hat aufgekreischt, als sie sah, was geschehen war.« Unwillkürlich hob er die Hände, als wolle er seine Ohren bedecken, um das Schreien nicht hören zu müssen. »Lovat hat sie gepackt. Sie hat sich gewehrt.« Seine Stimme war kaum hörbar. »Sie hat immer weiter geschrien. Es war grauenvoll ... man konnte hören, dass sie Angst hatte. Er hat ihr das Genick gebrochen. Ich glaube allerdings nicht, dass es mit Absicht geschah.«
    Niemand unterbrach ihn.
    »Aber man hatte sie gehört«, flüsterte er. »Andere sind gekommen  – alle möglichen Leute ... Sie haben die Tote da liegen sehen... und Lovat ...«
    Mit einem Mal schien Eiseskälte durch den Raum zu wehen.
    »Sie sind auf uns zugekommen«, fuhr Sandeman fort. »Ich weiß nicht, was sie wollten, aber wir sind in Panik geraten. Wir ... wir haben sie erschossen.« Seine Stimme brach. Er versuchte noch etwas zu sagen, aber die Szene in seinem Kopf erstickte wohl alles andere.
    Es kam Charlotte vor, als bekomme sie keine Luft.
    »Man hat diese Menschen aber nicht gefunden«, sagte Narraway.
    »Nein. Wir haben Feuer an das Gebäude gelegt, und sie sind alle darin verbrannt ... wie Abfall.« Sandemans Stimme klang rau. »Das war nicht schwer ... wir hatten ja unsere Fackeln. Später hat man die Sache als Unfall hingestellt.«
    Narraway zögerte nur einen kurzen Augenblick.
    »Wie viele waren es?«, fragte er.
    Sandeman erschauerte, als er sagte: »Etwa fünfunddreißig. Gezählt hat sie niemand, außer vielleicht der Imam, der sie beerdigt hat.«
    Im Raum hing eine entsetzliche Stille. Narraways Gesicht war ebenso fahl wie das Sandemans. »Der Imam?«, wiederholte er mit belegter Stimme.
    Sandeman sah ihn an. »Ja. Sie haben ein würdiges Begräbnis nach islamischem Ritus bekommen.«
    »Großer Gott!« Narraway stieß den Atem heftig aus.
    Charlotte spürte, wie Angst an ihr zu nagen begann. Sie wusste nicht einmal, warum, aber irgendetwas stimmte nicht, etwas Ungeheuerliches. Sie konnte es auf Narraways Gesicht sehen, erkannte es an der starren Haltung seiner Glieder in dem eleganten Anzug.
    »Durch wen?«, fragte Narraway mit zitternder Stimme. »Wer hat dafür gesorgt? Wer hat den Imam beauftragt?«
    »Der Garnisonskommandeur«, antwortete Sandeman. »General Garrick. Zwar hatte das Feuer gewütet wie in der Hölle, aber irgendwelche Reste waren wohl übrig geblieben.« Er schluckte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Wer sie sich näher ansah, musste erkennen, dass diese Menschen durch Kugeln

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