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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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vor Schmerz zusammenzucken ließ.
    »Die Alternative«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor, »besteht darin, die Wahrheit ans Licht zu lassen und mit anzusehen, wie sich in ganz Ägypten die Volksmassen erheben. Das wäre nach dem Orabi-Aufstand, der Beschießung Alexandrias, der Sache mit Khartoum und dem Mahdi wie ein Funke, der in ein Pulverfass fällt. Wir würden den Suezkanal verlieren und mit ihm nicht nur den Ägyptenhandel, sondern auch den mit der ganzen Osthälfte unseres Reiches. Aller Verkehr müsste wieder um die Südspitze Afrikas herumgehen. Das würde nicht nur für die Erzeugnisse der Kolonien wie Tee, Gewürze, Bauholz und Seide gelten, sondern auch für unsere sämtlichen Ausfuhren. Alles würde wieder um die Hälfte teurer. Vom militärischen und sonstigen Personenschiffsverkehr mit unseren Kolonien ganz zu schweigen.«
    Charlotte sah die Furcht auf seinem Gesicht und wandte sich Pitt zu. Auch er schien das ungeheure Ausmaß der Bedrohung begriffen zu haben.
    »Vier betrunkene britische Soldaten schlachten drei Dutzend friedliche Moslems in ihrem eigenen Heiligtum ab!«, sagte Narraway mit kaum hörbarer Stimme. Manche der Worte mussten ihm Charlotte und Pitt förmlich von den Lippen ablesen. »Können Sie sich vorstellen, welchen Aufruhr das in Ägypten, im Sudan und sogar in Indien auslösen würde, wenn es bekannt würde?«
    »Und Sie meinen, Miss Sachari hat Lovat getötet, um ihr Volk zu rächen?«, fragte Pitt. Sein Gesicht zeigte, wie tief ihn dieser Gedanke schmerzte.
    Charlotte hätte ihn liebend gern getröstet, doch fiel ihr nichts ein. Wer könnte die Ägypterin dafür tadeln? Zweifellos würde das Gesetz, das bei der Bestrafung der für das Massaker Verantwortlichen versagt hatte, dafür sorgen, dass sie gehängt wurde – und vermutlich Ryerson mit ihr. Ob sie das möglicherweise nicht berührte?
    »Hat Ryerson mit der Angelegenheit zu tun?«, fragte sie. »Oder hat er einfach Pech gehabt und sich zur falschen Zeit in die falsche Frau verliebt?«
    Staunend sah sie unverhüllten Schmerz auf Narraways Gesicht aufzucken. Die Sache schien ihm persönlich sehr nahe zu gehen. Gleich darauf trug er seinen üblichen Gleichmutwieder betont zur Schau, als sei ihm bewusst, dass sie es bemerkt hatte. »Wahrscheinlich«, sagte er und setzte sich wieder in Bewegung.
    Sie erreichten die Shaftesbury Avenue. Charlotte wusste nicht, wohin sie wollten, und sie hatte das Gefühl, dass es Pitt und Narraway ebenso ging. Die schreckliche Angst in ihren Köpfen verdrängte alles andere. Zwar nahm sie den Verkehrslärm um sich herum wahr, sah aber nichts als ein Gewirr bedeutungsloser Bewegungen. Wenn auch Alexandria eine andere Welt war, die sie nur von Bildern und aus Pitts Erzählungen kannte, bestand eine so enge Verbindung zwischen der Wirklichkeit dort und allem, was sie hier sah, als befände sich die Stadt gleich hinter der nächsten Grenze. Sofern es in Ägypten zu einem Aufstand kam, würde man britische Soldaten in Marsch setzen, von denen manche sterben würden – ganz wie im Sudan. Sie konnte sich noch an die Zeitungsberichte darüber erinnern. Eine gute Bekannte hatte auf diese Weise ihren einzigen Sohn vor Khartoum verloren.
    Und sollte Suez fallen, würde sich das auf eine Unzahl von Dingen im Leben Englands auswirken.
    Trotzdem war es Unrecht, einen schuldlosen Menschen zum Tod durch den Strang zu verurteilen. Aber traf Ryerson wirklich keine Schuld an dem Mord? Zwar hätte Tante Vespasia das gern gesehen, doch das genügte nicht. Auch sie konnte sich irren. Verliebte
Menschen taten zuweilen Dinge, die anderen nicht nachvollziehbar waren.
    Mit einem Mal blieb Narraway stehen und sah Pitt an. »Zumindest für die allernächste Zukunft ist Garrick in Sicherheit. Was Sandeman angeht, habe ich da meine Bedenken, vermute aber, dass er Stillschweigen bewahrt, wenn er die Gefahren richtig einschätzt. Hätte er sein Gewissen dadurch beschwichtigen wollen, dass er sich selbst anklagt, hätte er das längst getan. Seine Aufgabe hier um Seven Dials ist ihm wichtig. Es ist seine Art, Rechenschaft für seine Seele abzulegen. Ich nehme an, er würde eher sterben wollen, als diese Arbeit aufzugeben. Yeats und Lovat leben nicht mehr.«
    »Ist das Ayesha Sacharis Werk?«, fragte Pitt beinahe zögernd. »Aus Rache?«
    »Wahrscheinlich«, gab Narraway zur Antwort. »Und Gott ist mein Zeuge, ich kann es ihr nicht verdenken – außer, dass sie Ryerson mit da hineingezogen hat. Vielleicht gab es

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