Die Frau aus Alexandria
dass sich Pitt unwillkürlich fragte, ob das Absicht war. »Darf ich fragen, worum es geht?«
»Gewiss, Sir.« Pitt hatte bereits beschlossen, dass er sein Ziel, wenn überhaupt, nur mit völliger Offenheit erreichen konnte. Ein Winkelzug, den der Mann durchschaute, oder ein fehlgeschlagener Täuschungsversuch würde jedes Vertrauen zerstören. »Bei der ägyptischen Botschaft ist bekannt, dass Sie sich in Eden Lodge aufgehalten haben, als Mr Edwin Lovat erschossen wurde, und man verlangt, Sie wegen Ihrer Beteiligung an dem Vorfall zur Rechenschaft zu ziehen.«
Pitt rechnete damit, dass Ryerson erst alles abstreiten und schließlich ausfallend würde, wenn die Angst überhand nahm. Am schlimmsten wäre Selbstmitleid und das Flehen, ihn von den Peinlichkeiten einer Liebesgeschichte zu erlösen, derer er überdrüssig war. Ein solches Verhalten war ekelhaft und schändlich. Schon bei der bloßen Vorstellung überlief es ihn kalt. War das der Grund,
warum Narraway nicht selbst hatte kommen wollen? Wollte er nicht mit ansehen müssen, dass sich ein alter Freund vor ihm erniedrigte, und hielt er es für besser, es gar nicht dazu kommen zu lassen? In dem Fall konnte er wenigstens so tun, als wisse er nichts davon.
Aber Ryerson reagierte nicht im Entferntesten so, wie Pitt befürchtet hatte. Zwar lag auf seinem Gesicht der Ausdruck von Verwirrung und Besorgnis, doch gab es weder Anzeichen von Wut noch einen Hinweis darauf, dass er ausfallend werden könnte.
»Ich bin erst kurz nach der Tat dort eingetroffen«, korrigierte er, »und kann mir schlechterdings nicht vorstellen, wie die ägyptische Botschaft davon erfahren haben soll, es sei denn durch Miss Sachari selbst.«
Pitt sah ihn aufmerksam an. Nichts an der Stimme oder dem Gesichtsausdruck des Mannes ließ den Schluss zu, dass er es als Verrat empfinden würde, falls es sich so verhielt. Doch soweit Pitt von Narraway wusste, hatte die Frau den Namen Ryerson nicht erwähnt und dazu auch keine Gelegenheit gehabt, denn abgesehen von den Polizeibeamten, die sie befragt hatten, war sie mit niemandem in Berührung gekommen.
»Nein, Sir, sie war es nicht«, gab er daher zur Antwort. »Seit ihrer Festnahme hat sie mit niemandem gesprochen.«
»Die Botschaft sollte sich lieber darum kümmern, dass sie jemanden bekommt, der ihre Interessen vertritt«, sagte Ryerson sofort. »Das würde weniger Aufsehen erregen, als wenn ich es täte. Sofern es aber erforderlich ist, werde ich das Nötige veranlassen.«
»Meiner Ansicht nach wäre es besser, das nicht zu tun«, gab Pitt zurück, von diesem Vorschlag Ryersons aus dem Konzept gebracht. »Es würde mit Sicherheit mehr schaden als nützen«, fügte er hinzu. »Würden Sie mir bitte sagen, Sir, was in jener Nacht geschehen ist – soweit Sie die Vorfälle kennen?«
Ryerson bat Pitt, in einem der großen Ledersessel Platz zu nehmen, und setzte sich dann ihm gegenüber. Unbehaglich beugte er sich ein wenig vor, so konzentriert, dass sein Gesicht fast wie eine Maske wirkte. Er bot ihm keine Erfrischung an, vermutlich nicht
aus Unhöflichkeit, sondern weil ihm der Gedanke einfach nicht gekommen war. Sein ganzes Denken schien um die Frage zu kreisen, mit der ihn Pitt konfrontiert hatte. Er unternahm nicht den geringsten Versuch, das zu verheimlichen.
»An jenem Abend hatten sich die Sitzungen bis weit in die Nacht gezogen. Ursprünglich wollte ich spätestens um zwei bei Miss Sachari sein, aber es ist dann später geworden, wohl eher drei.«
»Wie sind Sie dort hingefahren, Sir?«, unterbrach ihn Pitt.
»Mit einer Droschke. Ich habe sie an der Edgware Road halten lassen und bin einige Nebenstraßen weit zu Fuß gegangen.«
»Haben Sie gesehen, dass jemand zu Fuß oder in einem Fahrzeug den Connaught Square verlassen hat?«
»Ich kann mich an niemanden erinnern. Allerdings habe ich auch nicht darauf geachtet. Außerdem hätte sich eine solche Person in jede beliebige andere Richtung entfernen können.«
»Durch welchen Eingang haben Sie das Anwesen Eden Lodge betreten?«, fuhr Pitt fort.
Ryerson errötete kaum wahrnehmbar. »Von der Seite, wo der Pferdestall liegt. Ich habe einen Schlüssel zur Hintertür.«
Pitt bemühte sich, seine Gedanken nicht zu zeigen. Moralische Erwägungen würden ihn nicht weiterbringen, ganz davon abgesehen, dass er wohl kaum das Recht hatte, über den Mann zu urteilen. Sonderbarerweise empfand er auch gar nicht das Bedürfnis dazu. Auf Ryerson passte keine der Vorstellungen, die er sich vor dem
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