Die Frau aus Alexandria
mich erwartete, in keiner Weise.«
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, lange um den heißen Brei herumzureden. »Es sind Fälle bekannt, in denen Frauen ihren Liebhaber bewusst zur Eifersucht angestachelt haben, Mr Ryerson«, sagte Pitt und sah, wie der Mann zusammenzuckte. »Das ist eine uralte Strategie, die ihren Zweck durchaus erfüllen kann«, fuhr er fort. »Selbstverständlich würde sie das Ihnen gegenüber jederzeit bestreiten.«
»Möglich«, sagte Ryerson trocken. Seine Stimme klang nicht zornig, sondern eher geduldig. »Wer sie näher kennt, würde wohl nie auf einen solchen Gedanken verfallen. Die Vorstellung ist widersinnig. Zum einen passt ein solches Verhalten nicht zu ihrem Wesen, zum anderen aber stellt sich die Frage, warum in drei Teufels Namen sie ihn hätte erschießen sollen, wenn sie die Absicht verfolgt hätte, auf die Sie anspielen.«
Pitt musste einräumen, dass das nicht einmal dann einen Sinn ergeben würde, wenn sich die Frau von ihrem Temperament oder ihrer Empörung hätte hinreißen lassen. Wer imstande war, solche Dinge von langer Hand zu planen, würde sich anschließend nie und nimmer so tölpelhaft aufführen.
»Könnte es sein, dass Lovat sie auf die eine oder andere Weise bedroht hat?«, fragte er.
»Sie hat ihn nicht ins Haus gelassen, Mr Pitt«, gab Ryerson zur Antwort. »Ich weiß nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, das zu beweisen, aber er war nicht im Haus.«
»Aber sie war doch draußen«, gab Pitt zu bedenken. »Im Garten hätte sie keine rechte Möglichkeit gehabt, sich gegen ihn zu wehren.«
»Offenbar setzen Sie voraus, dass sie die Pistole mit hinausgenommen hat.« Ein leichtes Lächeln umspielte Ryersons Lippen. »Damit hätte sie sich natürlich glänzend verteidigen können. Sollte sie ihn erschossen haben, weil er sie bedroht oder angegriffen hat, wäre das Notwehr und kein Mord.« Im nächsten Augenblick verschwand der spöttische Glanz aus seinen Augen. »Aber so war es nicht. Erst nachdem sie den Schuss gehört hat, ist sie hinausgegangen und hat ihn draußen tot aufgefunden.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«, fragte Pitt schlicht.
Ryerson seufzte. Sein Gesicht verzog sich so minimal, dass sich keiner seiner Züge veränderte. Trotzdem sah es so aus, als wäre alle Lebenskraft in ihm erloschen. »Sie hat es mir gesagt«, gab er ruhig zur Antwort, »und ich kenne sie unendlich besser als Sie, Mr Pitt.« In diesen Worten lag so viel Trauer und eine so tiefe Empfindung, dass sich Pitt peinlich berührt fühlte. Obwohl er sich wie ein Eindringling vorkam, blieb ihm keine Wahl, er musste weitermachen. »Sie ist von einer Art Aufrichtigkeit, die sie von innen wie ein Licht erleuchtet«, fuhr Ryerson fort. »Nie würde sie sich dazu hergeben, jemanden zu täuschen, denn damit täte sie ihrer Natur Gewalt an.«
Pitt sah ihn aufmerksam an. Der Mann war sichtlich bekümmert. In seinen Augen flackerte eine Angst, die er mühsam beherrschte. Offensichtlich galt sie nicht ihm selbst, sondern der Ägypterin. Pitt hatte die Frau noch nie gesehen und stellte sich eine üppige Schönheit vor, die schmeicheln und tändeln konnte, nachgab, wenn es ihren Zwecken dienlich war, und sich darauf verstand, den Appetit eines übersättigten Lebemannes zu kitzeln – kurz, die ideale Geliebte für einen Mann mit Geld und Macht. Solche Männer heirateten, wenn überhaupt, dann ausschließlich zur Befriedigung ihres politischen Ehrgeizes oder zur Festigung ihrer Hausmacht, ohne einen Gedanken an Dinge wie Liebe oder Ehre zu verschwenden. Sie waren bereit, für ihr Vergnügen zu zahlen und ihre körperlichen Bedürfnisse außerhalb der Ehe zu stillen.
Verblüfft merkte Pitt, dass Ryerson diesem Bild möglicherweise nicht entsprach. Ob er sich in dem Mann geirrt hatte? War es denkbar, dass er die Ägypterin liebte und nicht einfach nur begehrte? Das war ein völlig neuer Gedanke, der Pitts Wahrnehmung des Mannes vollständig veränderte. Der Auftrag, den er von Narraway und damit vom Premierminister erhalten hatte, lautete, Ryerson aus dem Fall herauszuhalten, soweit das menschenmöglich war. Sofern dieser Mann aus Liebe und nicht im eigenen Interesse handelte, ließen sich seine Reaktionen weit schwieriger voraussehen und unmöglich steuern. Vor Pitts innerem Auge tat sich ein ganzer Ozean von Gefahren auf.
»Ja«, sagte er leise zur Bestätigung, dass er verstanden hatte. »Miss Sachari hat Ihnen also gesagt, dass sie Schüsse gehört hatte ... Hat sie gesagt, wie
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