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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wollte.«
    »Lässt sich mit Sicherheit sagen, dass er sich selbst erhängt hat?«, fragte Pitt. Obwohl das im Lichte dessen, was sie wussten, zu keinen weiteren Erkenntnissen geführt hätte, hoffte er inständig, McDade werde ihm sagen, dass es sich um Selbstmord handelte.
    Ohne zu zögern, erklärte der Polizeiarzt: »Ganz und gar nicht. Er hat ein paar Stöße abbekommen, Blutergüsse unter der Haut, aber das kann ebenso gut unmittelbar vor dem Tod wie gleich danach gewesen sein. Das Blut hatte keine Zeit, sich irgendwo zu sammeln; man sieht kaum Spuren. Eine kleine Platzwunde in der Kopfhaut unter den Haaren, aber es lässt sich nicht sagen, ob das auf einen Schlag zurückgeht, den ihm jemand versetzt hat, oder darauf, dass er heruntergefallen ist. Es gibt ein Dutzend andere Möglichkeiten – das Wasser könnte ihn gegen die Brücke getrieben haben, oder ein vorüberfahrendes Boot, auch ein Stück Holz oder sonstiges Treibgut kann gegen ihn gestoßen sein.« Er zuckte die breiten Schultern. »Möglicherweise ist er ermordet worden, aber ich kann Ihnen nichts sagen, was als Beweis in der einen oder anderen Richtung verwertbar wäre. Tut mir Leid.«
    Pitt zog das Laken zurück und betrachtete aufmerksam den Toten. Der Rumpf wies Spuren auf, die die Annahme zuließen, er sei wiederholt an raue Oberflächen gestoßen, wodurch die Haut an mehreren Stellen aufgerissen war. Pitt breitete das Laken wieder über den Toten und wandte sich ab.
    »Kümmert sich jemand darum, dass er so beigesetzt wird, wie das sein Glaube verlangt?«, fragte er.
    McDades Brauen hoben sich. »Gibt es niemanden, der eine nähere Beziehung zu ihm hat?«
    »Nicht, soweit mir bekannt ist. Vermutlich wird das Gericht jetzt zu dem Ergebnis kommen, dass er Leutnant Lovat auf dem Gewissen hat.«
    McDade schüttelte den Kopf, sodass sein massiges Kinn ins Zittern geriet. »Sie sagen das, als wären Sie nicht sicher, ob es stimmt«, stellte er fest.
    »Bin ich aber«, sagte Pitt. »Nur weiß ich nicht, ob das die ganze Wahrheit ist. Danke.« Er beendete die Unterhaltung und wandte sich zum Gehen. In McDades Gegenwart fühlte er sich unbehaglich  – dem Mann entging nichts. Auch wollte er noch einmal mit den Leuten von der Wasserschutzpolizei sprechen, nach der genauen Stelle fragen, an der man El Abd gefunden hatte, dem Zustand seiner Kleidung und den Tidenzeiten der vergangenen Nacht. Der Zeitpunkt des Todes war ihm wichtig – im Augenblick eigentlich wichtiger als alles andere, was ihm durch den Kopf ging.
    Zwei Stunden später, um Viertel vor neun, war er im Besitz der Antworten. Er stand an der nördlichen Uferstraße und sah nachdenklich auf die schnell steigende Flut, während ihm der Wind den Mantel um die Beine schlug und ihm fast den Schal aus dem Kragen gerissen hätte. Auf der Themse wühlten Schiffe das Wasser auf – darunter Schleppkähne und ein einsamer Ausflugsdampfer, an dessen Deck lediglich ein halbes Dutzend Menschen zu sehen waren.
    Bei Tariq El Abd war der Tod zwischen ein und fünf Uhr morgens eingetreten. Genauer konnte man sich bei der Wasserschutzpolizei nicht festlegen. Um diese Zeit lagen die meisten Menschen zu Hause im Bett. Pitt hätte beweisen können, dass er dort war, denn Charlotte wurde immer sofort wach, sobald er aufstand. Bei jemandem, der allein lebte, gab es solche Sicherheit nicht.
    Er merkte, wie wenig er über Narraways Privatleben wusste. Offen gestanden hatte er sich auch nie Gedanken darüber gemacht.
Eigentlich wusste er so gut wie nichts über die Vergangenheit des Mannes, dessen Angehörige oder Überzeugungen. Narraway war so verschlossen, dass man es fast als geheimnistuerisch ansehen konnte. Mit Sicherheit wusste Pitt nur eines: Er war seiner Arbeit und der Sache, der er diente, leidenschaftlich ergeben. Außerdem bestand eine persönliche Beziehung zwischen ihm und Ryerson, die ihm tiefen Schmerz verursachte und über die er unter keinen Umständen zu reden bereit war. Genau das quälte Pitt jetzt so sehr, dass er nicht länger darüber hinweggehen konnte. Er musste umgehend handeln. Es blieb gerade genug Zeit, bevor das Gericht wieder zusammentrat – vorausgesetzt, Narraway war zu Hause.
    Im selben Augenblick, als Pitt vor dem Haus eintraf, trat Narraway in seinem üblichen tadellosen grauen Maßanzug vor die Tür. Er blieb unvermittelt stehen und fragte mit bleichem Gesicht und weit geöffneten Augen: »Was bringen Sie?« Seine Stimme klang belegt.
    Noch nie zuvor hatte sich Pitt so

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