Die Frau aus Alexandria
wenn Ryerson schuldig wäre. Was war ihr wohl wichtiger – dass er sich damit als Politiker unmöglich gemacht hatte oder sich durch eine beiläufige Affäre mit einer Frau, die einer anderen Rasse und Nation angehörte, zur Beihilfe zu einem Mord hatte hinreißen lassen? Nicht selten sieht man bei Menschen, die man schon seit vielen Jahren kennt, nur die Schauseite, die sie der Umwelt zu zeigen bereit sind, während unter der Oberfläche Stürme toben, von denen man sich nichts träumen lässt.
»Das tut mir Leid«, sagte er aufrichtig. Er hatte sie aufgesucht, weil er sie um ihre Hilfe bitten wollte, ohne zu überlegen, ob es für sie schmerzlich sein könnte, die näheren Umstände kennen zu lernen. Jetzt schämte er sich, dass er nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte. »Ich muss mehr über ihn wissen, als in der Öffentlichkeit bekannt ist«, erklärte er.
»Unbedingt«, stimmte sie zu, wirkte aber distanziert. »Darf ich wissen, was du vermutest? Doch wohl nicht, dass er den Mord begangen hat?«
»Du meinst also, er würde nicht einmal töten, um seinen Ruf zu wahren?«
»Du weichst mir aus, Thomas«, sagte sie, wobei ihre Stimme leicht zitterte. »Willst du damit etwa durchblicken lassen, dass du ihn verdächtigst?«
»Nein«, sagte er rasch und ein wenig schuldbewusst. »Ich habe mit ihm gesprochen und muss gestehen, dass ich nicht recht weiß, was ich denken soll. Ich möchte ein klareres Bild von ihm haben, dich aber andererseits nicht unabsichtlich mit meinen Fragen beeinflussen, indem ich dir zu viel sage.«
»Ich bin kein Dienstmädchen, das sich Worte in den Mund legen lässt«, sagte sie mit unverhohlener Herablassung. Als sie aber sah, dass er errötete, lächelte sie. Dabei entfaltete sie allen Zauber, mit dem sie ihr Leben lang Männer und bisweilen auch Frauen
betört hatte. »Ich würde keine Sekunde lang glauben, dass Saville Ryerson um seines Rufes willen jemanden umbringen könnte«, sagte sie mit tiefer Überzeugung. »Ich halte es aber nicht für unmöglich, dass er dazu fähig wäre, wenn es darum ginge, das Leben eines anderen Menschen oder sein eigenes zu verteidigen, vielleicht auch um eine Sache, die er für hinreichend wichtig hält. Allerdings bezweifle ich stark, dass dazu Dinge wie ein Streik der Baumwollarbeiter in Manchester gehören. Was könnte das deiner Meinung nach sein?«
»Ich wüsste nichts«, sagte er und spürte, wie seine Anspannung angesichts ihrer Wärme wich. »Allerdings kann ich mir auch nicht wirklich vorstellen, inwiefern Lovat für Miss Sachari eine Bedrohung hätte bedeuten können.«
»Ist es denkbar, dass er sie angegriffen oder einen Vorstoß unternommen hat, den sie zurückweisen wollte?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Um drei Uhr nachts, im Garten hinter dem Haus?«, gab er trocken zurück.
»Wohl kaum«, stimmte sie mit schiefem Lächeln zu. »Unter solchen Umständen treffen Menschen nur zusammen, wenn sie sich auf die eine oder andere Weise verabredet haben.« Dann wurde sie wieder ernst. »Und niemand nimmt in einem solchen Fall eine Schusswaffe mit, einfach so. Es war doch wohl ihre eigene, oder?« Die Hoffnung, er möge das bestreiten, flackerte kurz auf. »Ich muss zugeben, dass ich nur die Schlagzeilen gelesen habe. Die Sache erschien mir nicht wichtig.«
»Ja«, stimmte er zu. »Es war ihre Pistole, aber sie sagt, sie habe schon dort gelegen, als sie in den Garten hinausging. Sie habe einen Schuss gehört und habe nachsehen wollen, was war. Lovat sei bereits tot gewesen, als sie bei ihm eintraf.«
»Und was sagt Saville Ryerson?«, fragte sie.
»Dasselbe: dass Lovat tot war, als er dort eintraf«, gab er zur Antwort. »Angeblich hat er ihr geholfen, den Toten auf eine Schubkarre zu legen, weil sie ihn mit dem Einspänner in den Hyde Park bringen und dort abladen wollten. Irgendjemand – wir
wissen nicht, wer – hat die Polizei angerufen, und die kam so rasch, dass man Miss Sachari mitsamt der Leiche am Tatort fand. Als die Männer dort eintrafen, schirrte Ryerson gerade im Stall ein Pferd an.«
Vespasia seufzte. In ihren Augen lag ein gequälter Blick. »Ach je, und vermutlich sind die Indizien eindeutig.«
»Bisher schon. Auf jeden Fall muss jemand anders als sie den Toten hochgehoben haben, weil der für sie viel zu schwer war.« Er sah sie unverwandt an. »Es bereitet dir offenbar keine Schwierigkeiten, das von ihm zu glauben?«
Sie sah beiseite. »Nein. Vielleicht ist es besser, wenn ich dir die ganze Geschichte von
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