Die Frau aus Alexandria
Anfang an erzähle.«
»Bitte.« Er lehnte sich ein wenig in seinem Sessel zurück, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Die Ryersons gehören zum niederen Landadel«, begann sie leise. Er hörte ihrer Stimme an, wie tief sie in ihre Erinnerungen hinabtauchte. »Sie hatten viel Geld, aber kaum Verbindung zum Hochadel. Wenn ich mich richtig erinnere, hatten sie zwei oder drei Töchter. Saville als der einzige Sohn bekam eine gute Ausbildung in Eton und Cambridge. Danach war er eine Weile beim Militär und hat sich dort auch ausgezeichnet, wollte aber auf keinen Fall diese Karriere einschlagen. Um das Jahr 1860 herum hat er für das Unterhaus kandidiert und den Sitz auf Anhieb gewonnen.« Ein kaum merkliches Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. »Er hat in eine gute Familie eingeheiratet, eine schöne Frau«, fuhr sie fort. »Zwar glaube ich nicht, dass es eine Liebesehe war, aber die beiden haben sich gut verstanden, und mehr erwarten die meisten Leute ja wohl auch nicht.«
Vor dem Fenster hüpfte ein Vogel über den Rasen. Man sah späte Rosen in lebhaften Gelb- und Rottönen.
»Eines Tages ist sie umgekommen«, fuhr Vespasia so unvermittelt fort, dass Pitt einen Hustenanfall bekam.
Sie sah ihn mit leicht spöttischem Lächeln an. »Es war ein Unfall, Thomas, kein Mord. Wenn eine solche Sache heutzutage geschähe, würde man vermutlich dich hinschicken, um ihr auf den
Grund zu gehen, doch bezweifle ich, dass du mehr herausbekommen würdest als deine Kollegen damals.« Ganz ruhig fuhr sie fort: »Sie machte Ferien in Irland und geriet bei einer der Feindseligkeiten, wie sie dort immer wieder ausbrechen, ins Kreuzfeuer. Natürlich war es gesetzwidrig, dass die Leute aufeinander schossen. Es war ein Hinterhalt, den man politischen Gegnern gelegt hatte, und unglücklicherweise kam Libby Ryerson genau in dem Augenblick dort vorbei.«
Ein starkes Mitgefühl für Ryerson überkam Pitt. Es war tragisch, auf diese Weise einen Menschen zu verlieren. Hatte sich Ryerson Vorwürfe gemacht, dass er eine solche Möglichkeit nicht vorausgesehen und Maßnahmen ergriffen hatte, um das zu verhindern?
»Und wo hat er sich zu dem Zeitpunkt aufgehalten?«
»Hier in London.«
»Was wollte sie in Irland?«
»Sie hatte viele anglo-irische Freunde. Wie ich schon gesagt habe, war sie schön, und sie hungerte nach Erlebnissen – nach Abenteuern.«
Pitt war nicht sicher, was sie damit meinte, und er zögerte, sie zu fragen. Er fürchtete, damit eine Grenze zu überschreiten. Es ging nicht nur um die Erinnerung an die Tote, sondern auch um die Art und Weise, wie Vespasia sie sah. »Hatten sie Kinder?«, fragte er stattdessen.
»Nein«, sagte sie mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. »Sie waren erst seit zwei oder drei Jahren verheiratet.«
»Hat er wieder geheiratet?«
»Nein.« Sie sah ihn offen an. »Und bevor du mich fragst – ich kann es dir nicht sagen. Bestimmt hatte er eine ganze Reihe von Liebschaften, und vermutlich hat es auch viele Frauen gegeben, die ihn gern geheiratet hätten.« Ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch. »Ich glaube nicht, dass du in seinem Privatleben auf ein dunkles Geheimnis stoßen wirst – jedenfalls nicht auf diesem Gebiet. Und ich weiß auch von keinem anderen Skandal, weder in Gelddingen noch in politischen Fragen.«
Er überlegte lange, bevor er die nächste Frage stellte. Noch während er sie in Gedanken formulierte, merkte er, dass sie hinter allem anderen stand und für ihn von größter Bedeutung war.
»Ist dir irgendeine Beziehung zwischen ihm und Victor Narraway bekannt, ganz gleich, ob auf privater oder beruflicher Ebene?«
Vespasias Augen weiteten sich ein wenig. »Nein. Glaubst du, dass es da etwas gibt?«
»Ich weiß nicht. Es kommt mir so vor.« Das entsprach nicht unbedingt der Wahrheit. Zwar gründete sich, was er empfand, nicht auf Fakten, aber er war absolut sicher, dass Narraway Ryerson gegenüber starke persönliche Gefühle hatte. Es musste einen Grund dafür geben, dass er ihn geschickt hatte, statt selbst zu gehen, und zwar einen so bedeutsamen, dass er alles hinwegfegte, was ihm sein Verstand und das gesunde Urteilsvermögen sagten. Pitt war überzeugt, dass Narraway für diese Entscheidung nachträglich und nicht etwa im Voraus Vernunftgründe gesucht hatte.
Vespasia beugte sich ein wenig zu ihm vor, ohne dabei ihre aufrechte Haltung aufzugeben. »Sei vorsichtig, Thomas. Saville Ryerson ist ein kluger Kopf und kann politische Situationen unglaublich gut
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