Die Frau aus Alexandria
einschätzen. Vor allem aber lebt er aus dem Gefühl. Er hat sich stets für seine Überzeugungen wie auch für die Menschen eingesetzt, die er vertritt, aber auch wiederholt zum Nutzen der Stadt Manchester und weiter Teile Nordenglands außer viel Zeit beträchtliche Mittel aus der eigenen Tasche aufgewendet, ohne dass ihn jemand dabei unterstützt oder es ihm gedankt hätte.« Sie hob die Schultern ein wenig. »So anhänglich die Menschen in der Grafschaft Lancashire sind, sie haben ihn nicht immer verstanden. Hinzu kommt, dass sie hitzköpfig sind und nicht besonders viel von Entscheidungen halten, die man in London am grünen Tisch trifft. Mit seinem meist weitblickenden Vorgehen konnte er nicht verhindern, dass ihm im Parlament Feinde erwachsen sind: ehrgeizige junge Männer, die an seinem Stuhl im Unterhaus sägen, weil sie ihn selbst einnehmen wollen. Einen Schuldvorwurf welcher Art auch immer solltest du unbedingt erst dann gegen ihn erheben, wenn du deiner Sache völlig sicher bist, denn so etwas würde ihn
zugrunde richten. Die Rücknahme einer Anklage könnte das nicht ungeschehen machen.«
»Ich versuche ja bereits, ihn zu retten, Tante Vespasia!«, antwortete Pitt heftig. »Nur habe ich keine Vorstellung, wie ich dabei vorgehen soll!«
Sie wandte sich ab und sah zum goldgerahmten Spiegel an der gegenüberliegenden Wand hin. Er sah darin das Laub der Birken im Garten, deren Zweige in der leichten Brise hin und her schwankten.
»Du solltest dich mit dem Gedanken vertraut machen, dass das unter Umständen nicht möglich ist«, sagte sie. Ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum hörte. »Vielleicht liebt er diese Ägypterin so sehr, dass er an ihrem Verbrechen mitgewirkt hat. Tu, was du tun musst, Thomas, nur geh dabei so feinfühlig vor, wie du kannst.«
»Das werde ich tun«, versprach er und fragte sich zugleich, wie er das bewerkstelligen sollte.
KAPITEL 3
N achdem Gracie alle am frühen Morgen nötigen Arbeiten erledigt hatte, verließ sie das Haus, um Besorgungen zu machen. Es war ein heller, milder Spätsommertag. Kaum ein Lüftchen wehte, und sie schritt in ihren nagelneuen halbhohen Stiefeln munter aus. Sie waren einfach herrlich, hatten schwarze glänzende Knöpfe und richtige Absätze, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben größer erscheinen ließen als ihre ein Meter dreiundfünfzig.
Sie eilte durch die Keppel Street und die Store Street zur Tottenham Court Road, wo sie beim Fischhändler einige äußerst appetitlich aussehende, fette Bücklinge von satter brauner Farbe aussuchte. Zwar gab es Lieferanten, die Fisch ins Haus brachten, doch dem Jungen, der sie mit einem Flachwagen ausfuhr, traute sie nicht recht, weil sie fand, dass er es mit der Frische seiner Ware nicht besonders genau nahm.
Gerade wollte sie zum Obststand gehen, um Pflaumen zu kaufen, als sie ihre Freundin Tilda Garvie entdeckte. Sie war ein hübsches junges Ding, eine knappe Handbreit größer als Gracie und dort, wo diese mager war, eher von verführerischer Fülle, trotzdem aber immer noch schlank. Da sie immer fröhlich und guter Dinge war, fühlte sich Gracie in ihrer Gesellschaft wohl. Heute aber ging Tilda entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit sogar an der Blumenverkäuferin vorüber, ohne auch nur einen Blick auf deren Ware zu werfen. Wie eine Nachtwandlerin, musste Gracie unwillkürlich denken. Es kam ihr vor, als nähme Tilda
nichts von dem wahr, was um sie herum vor sich ging. Ob sie Sorgen hatte?
Als Gracie ihren Namen rief, blieb sie stehen und drehte sich um. Beim Anblick der Freundin trat der Ausdruck großer Erleichterung auf ihr Gesicht. Fast hätte sie eine korpulente Frau angerempelt, die einen Einkaufskorb auf der Hüfte balancierte und mit der freien Hand ein widerstrebendes Kind weiterzerrte.
»Gracie!«, rief sie aus und konnte der Frau im letzten Augenblick ausweichen, die sie sonst wohl einfach umgerannt hätte. Ohne sich bei ihr zu entschuldigen, sagte sie: »Wie schön, dass ich dich seh!«
»Was has du denn?«, erkundigte sich Gracie, trat noch ein Stück weiter vom Straßenrand beiseite und zog Tilda mit sich. »Du siehs aus, wie wenn de was such’n würdest. Haste etwa dein Einkaufsgeld verlor’n?« Diese Vermutung war alles andere als abwegig. Gracie erinnerte sich noch voll Entsetzen, wie sie selbst einmal, als sie Einkäufe machen sollte, das ihr anvertraute Geld verloren und nicht wiedergefunden hatte. Nahezu sechs Shilling – das bedeutete eine ganze Wochenration Lebensmittel
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