Die Frau aus Alexandria
Großtante ihrer Schwester Emily, nicht wirklich mit ihr verwandt, doch hatten sie und Pitt eine tiefe Zuneigung zu ihr gefasst und betrachteten sie mittlerweile als rechtmäßige Tante.
»Ich gehe zu ihr, sobald ich kann«, sagte er sofort. Er warf einen Blick auf die Kaminuhr. »Glaubst du, dass es zu spät ist, um sie anzurufen und zu fragen, ob es ihr morgen früh passt?« Er hatte sich schon halb erhoben.
Charlotte lächelte. »Wenn du ihr sagst, dass es um ein Verbrechen geht, das du aufklären sollst, und um einen möglichen Skandal in der Regierung, würde sie dich vermutlich sogar im Morgengrauen empfangen, wenn du ihr klar machst, dass es anders nicht geht«, gab sie zur Antwort.
Auch wenn diese Behauptung Charlottes kaum übertrieben war, frühstückte Pitt am nächsten Morgen erst und warf einen Blick in die Zeitungen, bevor er das Haus verließ. An diesem 16. September beschäftigten sich die Schlagzeilen mit Mr Gladstones Besuch in Wales, wo sich in der Frage der Trennung der dortigen Kirche vom Staat ein gewisses Einvernehmen abzuzeichnen schien. Außerdem wurde ausführlich über den Ausbruch der Cholera in Paris und Hamburg berichtet und gemeldet, dass die von Prinzessin Louise angefertigte und kürzlich vollendete Büste der Königin Viktoria bis zu ihrem Transport zu einer Ausstellung in Chicago in Osborne House bleiben würde, dem Anwesen auf der Isle of Wight, wo die Königin seit dem Tode ihres Gatten vorwiegend lebte.
Um neun Uhr befand sich Pitt in Vespasias hellem und luftigem Salon, aus dessen Fenstern der Blick in den Garten fiel. Die Schlichtheit des Raumes, fern jeder Überladenheit, die in den letzten Jahrzehnten Mode gewesen war, ließ ihn daran denken, dass Lady Vespasia in einem anderen Zeitalter zur Welt gekommen war und sich ihre Erinnerungen bis in die Jahre vor Königin Viktorias Thronbesteigung erstreckten. Als kleines Mädchen hatte sie sogar noch miterlebt, wie sich die Menschen vor einer Invasion Englands durch Napoleon fürchteten.
Jetzt saß sie in ihrem Lieblingssessel und sah ihn gespannt an. Sie war nach wie vor von bemerkenswerter Schönheit und hatte nichts von ihrem Witz und ihrer sehr persönlichen Art eingebüßt, mit der sie drei Generationen lang in der Londoner Gesellschaft geglänzt hatte. Sie trug ein taubengraues Kleid, und die Perlen
ihrer mehrfach geschlungenen Lieblingskette schimmerten sanft auf ihrem Busen.
»Nun, Thomas«, sagte sie mit leicht gehobenen silbrigen Brauen, »wenn ich dir helfen soll, müsstest du mir schon sagen, was du wissen willst. Die unglückliche junge Ägypterin, die Leutnant Lovat erschossen haben soll, ist mir nicht bekannt, und ich muss auch sagen, dass ich das für eine unzivilisierte und untaugliche Art halte, sich eines missliebigen Verehrers zu entledigen. Gewöhnlich genügt dazu eine entschlossene Zurückweisung. Sollte die nicht den gewünschten Erfolg haben, lässt sich dasselbe Ziel mit weniger drastischen Mitteln erreichen. Eine kluge Frau versteht es, die Dinge so einzurichten, dass sich ihre Liebhaber gegenseitig aus dem Weg räumen, ohne dass sie selbst dabei gegen die Gesetze verstoßen muss.« Während sie ihn kühl und nüchtern ansah, blitzte der Schalk in ihren silbergrauen Augen auf, und einen Augenblick lang wagte er sich auszumalen, dass sie nicht nur theoretisierte, sondern aus eigener Erfahrung sprach.
»Und auf welche Weise sorgt sie dafür, dass ihr Liebhaber nicht gegen das Gesetz verstößt?«
»Ach, geht es darum?«, fragte sie. Offensichtlich hatte sie den springenden Punkt augenblicklich begriffen. »Wer ist denn dieser Liebhaber, der sich so unbeherrscht und tölpelhaft benommen hat? Vermutlich handelt es sich nicht um Notwehr?« Ein Anflug von Besorgnis trat auf ihre Züge. »Bist du etwa im Auftrag des Liebhabers hier?«
»Offen gestanden mehr oder weniger ja. Allerdings nicht in seinem Auftrag, sondern in seinem Interesse.«
»Aha. Sie war also nicht allein, und Victor Narraway macht sich Sorgen um den Mann. Wer ist es denn?«
»Saville Ryerson.«
Sie saß bewegungslos da und sah ihn mit sonderbar traurigem Blick an.
»Kennst du ihn?«
»Selbstverständlich«, gab sie zur Antwort. »Und zwar schon aus der Zeit, bevor seine Frau ums Leben gekommen ist ... das ist
mindestens zwanzig Jahre her. Ach, es dürften eher zwei- oder dreiundzwanzig sein.«
Er spürte eine innere Anspannung. Aufmerksam sah er sie an und versuchte, von ihren Zügen abzulesen, wie sehr es sie schmerzen würde,
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