Die Frau aus Alexandria
für die Familie.
Mit leichtem Kopfschütteln verneinte Tilda die Frage. »Has du ’n Augenblick Zeit für mich, Gracie? Ich mach mir so große Sorgen, dass ich nich weiterweiß. Ich hatte richtig gehofft, dass ich dich seh. Ehrlich gesagt bin ich überhaupt nur deshalb hier lang gekomm’.«
Sofort bestürmten Gracie Fantasien von allerlei häuslichem Missgeschick. Tilda war Dienstmädchen in einem herrschaftlichen Haus mit entsprechend zahlreichem Personal. Der nächstliegende Gedanke war, dass man sie eines Diebstahls bezichtigt oder einer der männlichen Dienstboten ihr einen unsittlichen Antrag gemacht hatte. Zwar brauchte Gracie nicht zu befürchten, dass ihr dergleichen widerfahren könnte, doch war ihr bewusst, dass so etwas immer wieder vorkam. Am schlimmsten war es, wenn der Hausherr einem Dienstmädchen nachstellte, denn in einem solchen Fall drohte ihr so oder so Gefahr, ganz gleich, wie sie sich verhielt.
Ablehnung wie Willfährigkeit konnte dazu führen, dass man sie ohne Zeugnis entließ – und das war noch das Harmloseste, wenn man an die Möglichkeit einer Schwangerschaft oder daran dachte, dass ihr die Hausherrin alle möglichen sonstigen Verfehlungen anhängte.
Gemessen daran musste man fast froh sein, wenn man lediglich Streit mit anderen Dienstmädchen hatte, durch Unachtsamkeit im Hause irgendwelche unbedeutenden Schmuckstücke verloren gingen, man seine Arbeit schlecht tat, die Lieblings-Figurine der Hausherrin zerbrach oder beim Bügeln ein Kleid versengte.
»Was is denn passiert?«, fragte Gracie besorgt. »Komm, wir ha’m Zeit für ’ne Tasse Tee. Gleich um die Ecke kann man sich setzen, da erzählste mir alles.«
»Für so was hab ich kein Geld.« Tilda blieb reglos auf dem Gehweg stehen. »Außerdem glaub ich, dass ich mich nur dran verschluck’ n würde.«
Gracie begriff, dass etwas außerordentlich Schwerwiegendes vorgefallen sein musste. »Kann ich dir helfen?«, erkundigte sie sich. »Mrs Pitt is hochanständig un wirklich klug.«
Tilda verzog das Gesicht. »Eigentlich ... hatte ich mehr an Mr Pitt gedacht ... Ich dachte ... wenn der...« Sie hielt inne. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und in ihren Augen lag ein tiefes Flehen.
»Geht’s denn um ’n Verbrechen?«, fragte Gracie begierig. Tränen traten in Tildas Augen. »Ich weiß nich ... vielleicht noch nich ... jedenfalls ... ach, du lieber Gott, hoffentlich nich.«
Gracie zog sie am Arm beiseite, damit sie nicht den geschäftigen Frauen im Wege standen, die mit ihren Einkaufskörben fast wie mit Waffen in die Menge hineinstießen. »Du komms jetz mit, un wir trink’n ’ne Tasse Tee«, bestimmte sie. »Was Warmes tut dir bestimmt gut. Dabei kanns du mir dann genau sag’n, was los is. Hier ... pass auf, wo du hintritts, un stolper nich über die Pflastersteine.«
Tilda zwang sich zu einem Lächeln und ging schneller, um mit Gracie Schritt zu halten. In der Teestube gab Gracie ihre Bestellung
auf und tat mit einer schroffen Handbewegung die Behauptung der Bedienung ab, dafür sei es zu früh am Tag.
»So«, sagte sie, als sie allein waren. »Was is?«
»Es geht um Martin«, sagte Tilda mit belegter Stimme. »Mein Bruder«, fügte sie hinzu, bevor Gracie falsche Schlüsse zog. »Er is weg. Einfach verschwund’n, ohne mir ’n Piep zu sag’n. Das würd der nie tun, denn wir war’n immer zusamm’. Mama un Papa sind an Cholera gestor’m, wie ich sechs un er acht war. Seitdem ha’m wir uns immer einer um’n andern gekümmert. Da haut man nich einfach mir nix dir nix ab.« Um nicht weinen zu müssen, zwinkerte sie rasch, doch es nützte nichts. Immer mehr Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wischte sie mechanisch mit dem Ärmel ab.
Gracie bemühte sich, klar zu denken. »Wann has du ’n denn zuletzt geseh’n?«
»Vorvorgestern. Da hatt’n wir beide ’n freien Tag. Wir ha’m bei dem Mann an der Ecke heiße Pastet’n gegess’n un sin dann im Park spazier’n gegang’n. Die Kapelle hat gespielt. Er hat gesagt, wir könnt’n nach Covent Garden geh’n, wo die Steinsäule mit den Sonnenuhr’n steht. Keine Ahnung, was er da wollte – einfach so.« Gracie fand das sonderbar, denn dieser als »Seven Dials« bekannte Ort hatte einen äußerst üblen Ruf, und jeder Londoner wusste, dass es sich nicht empfahl, ihn nach Einbruch der Dunkelheit aufzusuchen.
Die Bedienung kam mit einer Kanne Tee und warmen Scones zurück, Teegebäck mit Sahne. Als sie Tildas von Tränen überströmtes
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