Die Frau aus Alexandria
irgendetwas tun, um zu helfen?«, erkundigte sich Charlotte, als sie nach dem Essen beieinander im Salon saßen, und hob fragend den Blick von ihrer Flickarbeit.
»Wem?«, fragte Pitt zurück. »Ryerson?«
»Wem sonst?« Sie fuhr fort, die Nadel eifrig hin und her zu führen, wobei das Licht silbern darauf glänzte und die Spitze immer wieder leise gegen den Fingerhut stieß. Er mochte das Geräusch. Nicht nur stand es für alles Häusliche und Warmherzige, auch schien ihm darin eine unendliche Sicherheit zu liegen. Er hatte keine Vorstellung, was Charlotte da flickte, aber der Geruch frisch gewaschener Baumwolle stieg ihm angenehm in die Nase.
»Nun, kannst du?«, ließ sie nicht locker.
»Ich weiß nicht«, gab er zu und merkte, wie sich das Gewicht dieser Äußerung auf ihn legte, als wäre es im Zimmer plötzlich
dunkel geworden. »Ich bin nicht sicher, ob er sich selbst helfen möchte.«
Verwirrt sah sie ihn an, die Nadel reglos in der Hand. »Was willst du damit sagen? Dass er schuldig ist?«
»Er sagt Nein. Und ich neige dazu, ihm zu glauben.« Er musste daran denken, wie der Mann die Ägypterin in Schutz genommen hatte, sah sein Gesicht vor sich und erinnerte sich daran, mit welcher Bewegtheit er sich für sie in die Schanze geschlagen hatte. »Er bestreitet nicht, dass er am Tatort war«, fügte er hinzu, »und ihr geholfen hat, den toten Lovat auf die Schubkarre zu legen, damit sie ihn in den Hyde Park bringen konnten.«
»Das ist aber doch Beihilfe!«, sagte sie verblüfft. »Auch wenn er an der Tat nicht beteiligt war, hat er damit zu dem Versuch beigetragen, sie zu verheimlichen.«
»Das ist mir klar.«
»Und der Auftrag des Premierministers lautet also, ihn aus der Sache herauszuhalten?«, fragte sie. Sie wusste nicht, was sie darüber denken sollte.
Er sah, dass sich Ungläubigkeit, Wut, Besorgnis und Bestürzung auf ihrem Gesicht spiegelten. Doch es gelang ihm nicht zu erkennen, welche dieser Empfindungen am stärksten ausgeprägt war.
»Ich bin nicht sicher, was das kleinere Übel wäre«, sagte er aufrichtig.
Verwirrt fragte sie: »Was soll das heißen? So kurz nach den Wahlen würde die Regierung doch bestimmt nicht über einen solchen Fall stolpern. Ryerson müsste eben zurücktreten, das ist alles. Falls er tatsächlich seiner Geliebten geholfen hat, einen früheren Liebhaber umzubringen, kann es gar keine andere Möglichkeit geben.«
»Die Baumwollarbeiter in Manchester drohen mit Streik«, gab er zu bedenken. »Dort liegt Ryersons Wahlkreis, und möglicherweise ist er der Einzige, der die Sache in den Griff bekommen kann, ohne dass dabei wer weiß wie viele Menschen zugrunde gerichtet werden. Es geht dabei nicht nur um die Fabrikbesitzer, sondern auch um die Arbeiter sowie um die kleinen Geschäftsinhaber und Handwerker in den umliegenden Ortschaften.«
»Ich verstehe«, sagte sie trocken. »Und was kannst du tun? Seine Mitwirkung vertuschen? Würdest du dich dazu hergeben?« Sie hatte ihre Arbeit beiseite gelegt und sah ihn mit umdüstertem Blick fragend an.
»Ich glaube nicht, dass es so weit kommt«, sagte er und hoffte in tiefster Seele, dass er mit dieser Annahme Recht behielt. »Man weiß in der ägyptischen Botschaft, dass er am Tatort war.«
Verblüfft hob sie die Brauen. »Und woher? Hat die Frau es den Leuten gesagt?«
»Eine ausgesprochen interessante Frage. Eigentlich kann sie es nicht gewesen sein, denn sie hatte seit ihrer Verhaftung keinerlei Gelegenheit dazu. Außerdem scheint es, dass sie ihn decken wollte. Sie hat sich der Polizei gegenüber erstaunt gezeigt, ihn am Tatort zu sehen, und so getan, als wäre er gerade erst gekommen. Dabei sagt er selbst, dass er mindestens schon seit einigen Minuten dawar und den schwereren Teil des Körpers auf die Schubkarre gewuchtet hatte. Es war unübersehbar, dass ihr jemand dabei geholfen haben musste, denn Lovat war für sie allein nicht nur viel zu schwer, man hat an ihrem weißen Kleid auch nicht die geringste Spur von Blut gefunden.«
»Du musst noch weit mehr über Ryerson in Erfahrung bringen«, sagte sie, und ein besorgter Ausdruck trat in ihre Augen. »Damit meine ich nicht allgemein bekannte Dinge, sondern solche aus seinem Privatleben. Du musst unbedingt wissen, was du glauben darfst und was nicht. Hast du schon daran gedacht, Tante Vespasia zu fragen? Falls sie nicht persönlich mit ihm bekannt ist, weiß sie bestimmt jemanden, der ihn kennt.« Zwar war Lady Vespasia Cumming-Gould, eine angeheiratete
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