Die Frau aus Alexandria
Gesicht sah, schien sie etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber wohl anders. Gracie dankte ihr, zahlte und legte einige Pennies als Trinkgeld dazu. Dann goss sie sich beiden ein und wartete, bis Tilda den ersten Schluck getrunken und von ihrem Gebäck abgebissen hatte. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und sich möglichst genau so zu verhalten, wie es Pitt ihrer Vermutung nach tun würde.
»Mit wem has du da in dem Haus gesprochen, wo dein Bruder in Stellung is?«, begann sie. »Wo is das überhaupt?«
»Am Torrington Square, gleich hinter’m Gordon Square. Gar nich weit von hier«, sagte Tilda und legte ihr angebissenes Scone auf den Teller zurück. »Der gnä’ Herr is Mr Garrick. Er hat keine Frau mehr.«
»Un mit wem has du da gesproch’n?«, ließ Gracie nicht locker.
»Mit Mr Simms. Das is der Butler.«
»Was hat der genau gesagt?«
»Dass Martin weg wär und er mir nich sagen könnte, wohin«, antwortete Tilda. Sie schien ihren Tee vergessen zu haben und sah Gracie unverwandt an. »Der hat wohl gemeint, wir geh’n zusamm’. Deshalb hab ich ihm gesagt, dass das mein Bruder is. Nur weil wir uns ähnlich seh’n, hat er mir am Ende wohl auch geglaubt, aber bis das so weit war, hat’s ’ne halbe Ewigkeit gedauert.« Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem wollte er mir nich sag’n, wo er is. Er hat gesagt, bestimmt würd sich Martin melden, aber das hat er nich getan. Gestern war mein Geburtstag – den würd er nie vergess’n. Da hat er immer dran gedacht, schon wie ich ganz klein war. Bestimmt is ihm was ganz Schlimmes passiert.« Sie schluckte und zwinkerte erneut. Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. »Jedes Jahr hat er mir was geschenkt, und wenn’s nur ’ne Haarschleife war, ’n Taschentuch oder so was. Er hat immer gesagt, Geburtstag is wichtiger wie Weihnachten, weil der nur für einen selber is un Weihnachten für alle.«
Gracie empfand eine tiefe Besorgnis. Womöglich ging es hier um mehr als eine häusliche Intrige, so unangenehm derlei sein konnte. Ob sie Pitt von der Sache in Kenntnis setzen sollte? Allerdings war er nicht mehr bei der Polizei, und von den Aufgaben des Sicherheitsdienstes hatte sie keine rechte Vorstellung. Bisher hatte sie lediglich mitbekommen, dass alles geheim war, was Pitt tat, und sie deutlich weniger über seine Arbeit erfuhr als früher. Da war es um gewöhnliche Verbrechen gegangen, über die sogar die Zeitungen schrieben, sodass jeder die näheren Umstände nachlesen konnte.
Es sah ganz so aus, als ob es zumindest im Augenblick ihr überlassen bleiben würde, festzustellen, was es mit Tildas Bruder Martin
auf sich hatte. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, um in Ruhe nachdenken zu können.
»Has du außer mit dem Butler noch mit jemand gesproch’n?«, fragte sie nach einer Weile.
Tilda nickte. »Ja. Ich hab den Stiefelputzer gefragt. Die kriegen oft ’ne Menge mit, und viele von denen sin’ so frech, dass se’s auch weitersag’n. Kein Wunder – wer hört schon auf ’n Stiefelputzer? Da versuch’n se eben, auf ihre Kost’n zu komm’n, wenn se schon mal ’ne Gelegenheit dazu ha’m.« Der Anflug von Humor verschwand gleich wieder von ihrem Gesicht. »Aber der hat auch nur gesagt, dass Martin einfach von jetz auf gleich verschwund’n wär. Heute hier wie immer, un plötzlich nich mehr da.«
»Aber er wohnt doch im Haus, oder?«, fragte Gracie ganz erstaunt.
»Natürlich! Er is Kammerdiener von dem jungen Mr Garrick und tut alles für den. Mr Stephen hält große Stücke auf ihn.«
Gracie holte tief Luft. Dieser Fall war zu ernst, als dass sie aus lauter Seelengüte die Wirklichkeit hätte übertünchen dürfen, so hart die Umstände sein mochten. »Könnte es sein, dass dieser Mr Garrick ’nen Wutanfall gekriegt und ’n entlassen hat un Martin sich jetz so schämt, dass er sich ers bei dir meld’n will, wenn er ’ne neue Stelle hat?« Sie stellte die Frage äußerst ungern und sah an Tildas kläglichem Gesichtsausdruck, wie schmerzlich dieser eine solche Vorstellung war.
»Nie im Leben!« Entschieden schüttelte Tilda den Kopf. »Martin würd nie im Leben was tun, wesweg’n man’n entlass’n könnte. Un Mr Stephen is auf’n angewies’n. Ich mein, er braucht’n wirklich. Nich nur dass er ihm ’s Halstuch bindet un die Kleidung in Schuss hält.« Ihre Hände waren ineinander verkrampft, das Scone lag vergessen auf dem Teller. »Er kümmert sich um ihn, wenn er zu viel getrunk’n hat un es ihm nich
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