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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Haus trat, war sie zwar nach wie vor bemüht, die Flammen ihres Zorns zu schüren, fühlte sich aber so elend, dass ihr das kaum noch gelang. Ihr Versuch, Tellman für den Fall zu interessieren, war fehlgeschlagen. Es war ihr nicht gelungen, ihn zu überreden, dass er sich um Martin Garvies Verschwinden kümmerte. Sich zu weigern war sein gutes Recht, sie aber hätte sich zumindest so verhalten müssen, dass dieser Zwischenfall ihrer Freundschaft nicht abträglich war. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie bei ihrer nächsten Begegnung offen mit ihm sprechen und das wieder einrenken konnte. Verwundert merkte sie, dass sie das in tiefster Seele schmerzte. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr das so wichtig war. Eines Tages würde sie nicht mehr umhin können, sich einzugestehen, wie sehr ihr an ihm lag.
    Zum Glück war niemand in der Küche, und so konnte sie sich rasch das Gesicht waschen und dann so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Sie hatte gerade den Wasserkessel aufgesetzt, als Charlotte hereinkam.
    »Woll’n Se ’ne Tasse Tee?«, fragte Gracie beinahe munter.
    »Gern«, sagte Charlotte, setzte sich an den Tisch und machte es sich gemütlich. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sie sich in einem Ton, als erwarte sie eine Antwort.
    Gracie zögerte und überlegte rasch. Sollte sie sagen, alles sei in bester Ordnung, oder war es besser, wenigstens den Teil der Geschichte
preiszugeben, der mit Martin Garvie zu tun hatte? Es wunderte sie, dass Charlotte sie so mühelos durchschaute. Auch das schien ihr ein wenig beunruhigend. Andererseits würde bei ihrer langen und engen Bekanntschaft das Gegenteil die Vermutung zulassen, dass sie Charlotte gleichgültig war, und das wäre noch schlimmer.
    »Ich hab heute Vormittag Tilda Garvie getroff’n«, sagte sie, wobei sie dem Tisch den Rücken zukehrte und die Teedose unnötig laut schloss. »Sie hat ihr’n Bruder Martin schon länger nich geseh’n und hat Angst, dass was Schlimmes passiert sein könnte.«
    »Was könnte das zum Beispiel sein?«, erkundigte sich Charlotte.
    Der Wasserkessel begann zu pfeifen, und Gracie nahm ihn vom Herd. Sie wärmte die Kanne mit heißem Wasser vor, das sie anschließend ausgoss, gab die Blätter hinein und goss den Tee auf. Jetzt gab es keinen Vorwand mehr, sich nicht hinzusetzen, und so nahm sie steif am Tisch Platz, wobei sie Charlottes forschendem Blick auswich.
    »Er is nich mehr in dem Haus am Torrington Square, wo er in Stellung is«, erläuterte sie. »Un der Butler sagt nich, was mit ihm los is oder wo er hin is – kein Ton.« Mit einem Mal erwies sich ihre Verzweiflung über die Situation als stärker als ihr Stolz, und sie sah Charlotte offen an. »Wenn alles in Ordnung wär, hätt er sich bestimmt bei Tilda gemeldet, weil sich die beid’n sehr nahe steh’n«, fügte sie eilig hinzu. »Se ha’m nämlich sons niemand auf der Welt. Er hat sich nich mal zu ihr’m Geburtstag gemeldet, was noch nie vorgekomm’n is. Bestimmt hätt er ihr zumindest was gesagt, wenn das möglich gewesen war.«
    Charlotte runzelte die Stirn. »Welche Tätigkeit übt er denn dort aus?«
    »Er is Kammerdiener beim jungen Mr Garrick«, gab ihr Gracie Auskunft. »Nich einfach Lakai oder so was. Un Tilda sagt, Mr Stephen kann ohne ihn nix mach’n. Ich weiß ja, dass Dienstbot’n manchmal ziemlich schnell rausflieg’n, wenn se was angestellt ha’m oder ’s auch nur danach aussieht, aber warum sollte Martin in so
’nem Fall seiner Schwester nix sag’n? Einfach, damit se sich nich sorgt.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Charlotte nachdenklich. Sie griffnach der Teekanne, goss beiden ein und stellte sie auf den Untersetzer zurück. »Das klingt fast so, als ob ihm etwas entsetzlich zu schaffen machte. Andernfalls hätte er ihr sicherlich mitgeteilt, dass er fortgeht und wohin. Es wäre doch denkbar, dass er eine bessere Stellung gefunden hat. Kann deine Freundin lesen?«
    Verblüfft hob Gracie den Kopf.
    »Na ja, falls nicht, würde es nicht viel nützen, ihr einen Brief zu schreiben«, erklärte Charlotte. »Andererseits könnte ihn ihr natürlich jemand vorlesen.«
    Gracie spürte, wie das Gefühl der Verlorenheit zunahm, das sie empfand. Sie fühlte sich völlig ausgehöhlt. Sie hätte keinen Bissen heruntergebracht, und schon der Gedanke, etwas zu essen, war ihr widerwärtig. Auch der angenehm süße Tee, von dem sie einen kleinen Schluck getrunken hatte, änderte nichts an ihrem Zustand.
    »Und weiter?«, fragte Charlotte

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