Die Frau aus Alexandria
nicht die Polizei gerufen worden, hätten die beiden die Leiche fortgeschafft und alles in ihren Kräften Stehende getan, um die Spuren zu verwischen. Das war eindeutig ein Verbrechen, und selbst die Fähigkeit, die Probleme der nordenglischen Baumwollindustrie zu lösen, konnte ein solches Verhalten nicht rechtfertigen. Bei Licht betrachtet, bestand zwischen diesen Dingen und einer Geliebten in Eden Lodge nicht die geringste Beziehung. Ryerson hatte einer privaten Schwäche nachgegeben und musste jetzt einen – zugegebenermaßen hohen – Preis dafür zahlen.
Beim Anblick der quälenden Sorge auf Pitts Gesicht stieg unvermittelt ein großer Zorn in ihr auf. Wieso bürdete man ihrem
Mann die Verantwortung dafür auf, diesen hochrangigen Politiker vor den Folgen seiner eigenen Unvernunft zu bewahren? Womöglich musste er sich dann auch noch Vorwürfe anhören, weil er sich außerstande gesehen hatte zu tun, wovon jedem Dummkopf im Voraus klar sein musste, dass es unmöglich war. Er wurde gezwungen, eine Wahrheit zu unterdrücken, die an den Tag zu bringen seine Berufspflicht war. Nachdem man über Jahre hinweg von ihm erwartet hatte, dass er genau das tat, drängte man ihn jetzt in eine Lage, in der er eben die Werte verleugnen sollte, die ihn vorher als Ehrenmann ausgezeichnet hatten. War den Leuten eigentlich nicht klar, dass das Bestreben, Verfehlungen zu enthüllen, auf seine tief verwurzelten moralischen Vorstellungen zurückging?
Er merkte, dass sie ihn ansah, und hob rasch den Blick.
»Was hast du?«, fragte er.
Sie lächelte. »Nichts. Ich gehe nachher zu Emily. Großmutter wird dort sein«, erklärte sie. »Seit Mama erfahren hat ... was sie durchgemacht hat, ist es mir noch nicht gelungen, unbefangen mit ihr zu reden. Es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass ich es versuche.« Sie hatte ihrer Schwester den Besuch am Vorabend nach dem Gespräch mit Gracie telefonisch angekündigt. In Pitts Haus gab es seit mehreren Jahren ein Telefon, weil das für seinen Beruf unerlässlich war, und Emily hatte eines, weil sie sich so gut wie alles leisten konnte, wonach ihr der Sinn stand.
Ein flüchtiges Lächeln trat auf Pitts Züge. Er kannte Charlottes Großmutter schon lange und war mit ihrer Wesensart bestens vertraut.
Sie ging nicht weiter auf dies Thema ein, denn selbst ihm gegenüber fiel es ihr nach wie vor schwer, über die anstößigen Vorfälle aus der fernen Vergangenheit zu sprechen. Als er das Haus verließ, ohne ihr mitzuteilen, was er an diesem Tag zu ermitteln oder zu finden hoffte, ging sie nach oben, um ihr bestes Vormittags-Ausgehkleid anzuziehen. Sie folgte nicht der Mode; das ließen ihre Geldmittel bei weitem nicht zu, erst recht nicht, seit man Pitt die Leitung der Wache in der Bow Street aus der Hand genommen und ihn zum Sicherheitsdienst versetzt hatte – aber ein gut geschneidertes
Kleid in einer Farbe, die ihr schmeichelte, strahlte eine Würde aus, die ihr niemand nehmen konnte. Sie entschied sich für einen warmen Herbstton, der zu ihrem leicht rötlichen Haar und ihrem hellen, aber nicht blassen Teint passte. Zwar hatte das Kleid nicht die hoch angesetzten Ärmel, die gegenwärtig Mode waren, dafür aber eine nur angedeutete Turnüre, und das war genau richtig. Allerdings konnte sie in einem solchen Kleid unmöglich mit dem Pferdeomnibus fahren, und so nahm sie das Geld für die Droschke aus der Haushaltskasse. Um Viertel nach zehn traf sie vor Emilys hochherrschaftlichem Haus ein. Da das Hausmädchen, das ihr öffnete, sie gut kannte, wurde sie sogleich in den so genannten kleinen Salon geführt, wo die Damen der Gesellschaft enge Freundinnen empfingen.
Emily erwartete sie schon ganz aufgeregt. Ihre Augen blitzten vor Spannung und Ungeduld. Wie immer trug sie ein hochelegantes Kleid in ihrer Lieblingsfarbe Blassgrün, das vorzüglich zu ihrem hellen Haar passte. Sie begrüßte die Schwester mit einem flüchtigen Kuss und trat einen Schritt zurück. »Was ist denn passiert?«, fragte sie. »Du hast gesagt, dass es wichtig ist. Sicher klingt es schrecklich herzlos, wenn ich sage, wie sehr es mich ärgert, dass mittlerweile alle Fälle, an denen Thomas arbeitet, in höchstem Grade geheim sind, ganz gleich, worum es geht. Als er noch in der Bow Street war, konnte man wenigstens ab und zu mitfiebern. Aber natürlich ist es viel schlimmer, dass man ihn da einfach abgesetzt hat. Das ist maßlos ungerecht und war sicher ein fürchterlicher Schlag für ihn.« Mit einer Handbewegung
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