Die Frau aus Alexandria
forderte sie Charlotte auf, in einem der Sessel mit großem Blumenmuster Platz zu nehmen. »Die feine Gesellschaft ödet mich an, und sogar die Politik scheint im Augenblick ausgesprochen langweilig zu sein«, fuhr sie fort, raffte ihre Röcke und setzte sich ebenfalls. »Nicht einmal einen ordentlichen Skandal gibt es, von dem um die Ägypterin einmal abgesehen.« Sie beugte sich lebhaft vor. »Wusstest du schon, dass die Presse auch Saville Ryersons Festnahme verlangt? Ist das nicht widersinnig?« Ihre Augen suchten in Charlottes Gesicht nach Bestätigung. »Wenn Thomas noch bei der Polizei wäre, hätte
man den Fall vermutlich ihm übergeben. Wer weiß, vielleicht ist es ja auch gut so, dass er diese Geschichte nicht zu entwirren braucht. Ich stelle mir das unglaublich schwierig vor.«
»Bedauerlicherweise ist das Problem, mit dem ich zu dir komme, ganz und gar alltäglich«, sagte Charlotte und bemühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene. Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass ein Skandal, und sei er noch so aufsehenerregend, die Schwester daran hinderte, ihr zuzuhören. Sie lehnte sich zurück und sah sich rasch um. Der Raum war in Gold- und Grüntönen gehalten, und auf dem Tisch standen in einer dunkelgrünen Vase herb duftende Chrysanthemen und späte gelbe Rosen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich in das Haus ihrer Kindheit zurückversetzt, in dessen großbürgerlicher Behaglichkeit sie aufgewachsen war, ohne etwas von all der Armut und den Schattenseiten zu ahnen, die draußen in der weiten Welt an der Tagesordnung waren.
Dann war der Augenblick vorüber.
»Worum geht es denn?«, fragte Emily. Sie setzte sich zurecht und sah Charlotte, die Hände im Schoß gefaltet, aufmerksam an. »Hoffentlich ist es etwas, was meinen Geist herausfordert. Das ewige Wiederkäuen von Banalitäten langweilt mich zu Tode.« Sie lächelte ein wenig, als verspotte sie sich selbst. »Ich habe das Gefühl, dass sich die Phase meiner gesellschaftlichen Seichtheit ihrem Ende nähert. Ist das nicht beunruhigend? Ich kann keine Freude mehr daran finden, dem Vergnügen nachzujagen. Das ist so, wie wenn man zu viel Schokoladensoufflé gegessen hat. Noch vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, dass das völlig unmöglich ist.«
»Dann lass mich dir Alltagskost vorsetzen«, erwiderte Charlotte.
Gerade als sie mit ihrer Schilderung angefangen hatte, ertönte ein so kräftiges Klopfen an der Tür, als habe jemand mit dem Knauf eines Spazierstocks dagegengeschlagen. Im nächsten Augenblick flog sie auf, und eine kleine alte Frau in einem mit Schwarz abgesetzten pflaumenblauen Kleid stand auf der Schwelle. Ihr Gesicht zeigte unverhohlene Empörung, doch schien sie nicht so recht zu wissen, ob sie sich damit an Emily oder an Charlotte wenden sollte.
Vielleicht hatte es so kommen müssen. Charlotte stand auf und zwang sich mit großer Anstrengung zu einem Lächeln. »Guten Morgen, Großmutter«, sagte sie und trat zu der alten Dame. »Man sieht, dass es Ihnen gut geht.«
»Wie kannst du Aussagen darüber machen, wie es mir geht?«, fuhr die alte Dame sie mit flammendem Blick an. »Woher willst du das überhaupt wissen, wenn du mich seit Monaten nicht besucht hast? Du bist roh und gefühllos und kennst deine Pflichten nicht. Seit du mit diesem Polizisten verheiratet bist, hast du jedes Gefühl für Anstand verloren.«
Mit einem Schlag schwand Charlottes Entschluss dahin, ihr höflich gegenüberzutreten. »Sie haben es sich also anders überlegt!« , gab sie zurück.
Die alte Dame verstand nicht, was sie damit meinte, und das steigerte ihren Zorn noch. »Ich habe keinen Schimmer, wovon du redest. Warum kannst du dich nicht deutlich ausdrücken? Früher warst du doch dazu fähig. Es muss mit den Kreisen zusammenhängen, in denen du inzwischen verkehrst.« Sie funkelte ihre andere Enkelin an. »Willst du mir keine Sitzgelegenheit anbieten, Emily? Oder weißt auch du nicht mehr, was sich gehört?«
»Bei mir dürfen Sie sich immer gern setzen, Großmutter«, sagte Emily bemüht geduldig. »Das ist Ihnen doch sicher bekannt?«
Die alte Dame ließ sich schwer in den dritten Sessel sinken und stellte den Stock vor sich auf den Boden. Dann wandte sie sich an Charlotte: »Was soll das heißen, dass ich es mir anders überlegt hätte? Ich überlege es mir nicht anders!«
»Sie haben gerade gesagt, ich hätte jedes Gefühl für Anstand verloren«, sagte Charlotte.
»Das stimmt auch!«, gab die alte Dame rechthaberisch zurück.
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