Die Frau aus Alexandria
ihn aber erst einmal für sich gewonnen hatte, stand er so treu zu ihm, als wären sie durch Blutsbande miteinander verbunden.
»Das hier ist aber nicht der richtige Ort für Sie«, sagte er und sah Gracie mit leichtem Stirnrunzeln an. »Ich bringe Sie zum Pferdeomnibus. Unterwegs können Sie mir alles sagen.« Er wandte sich zu seinem Untergebenen um. »Bis morgen früh, Hotchkiss.«
Gehorsam erhob sich der Angesprochene. »Ja, Sir. Gute Nacht, Sir. Auch Ihnen eine Gute Nacht, Miss.«
Gracie verabschiedete sich ebenfalls und folgte dann Tellman zur Tür. Draußen sagte sie: »Es is wirklich wichtig, sons hätt ich Se nich belästigt.« Dann fügte sie hinzu: »Jemand is verschwunden.«
Er bot ihr den Arm. Sie nahm ihn widerwillig, merkte dann aber verwundert, dass ihr das angenehm war. Ihr fiel auf, dass er kürzere Schritte als sonst machte, damit sie nicht so schnell gehen musste. Sie lächelte, doch als sie sah, dass ihm das nicht entgangen war, machte sie gleich wieder ein abweisendes Gesicht. Auf keinen Fall sollte er etwas von ihren Empfindungen merken. »Es geht um meine Freundin Tilda Garvie«, sagte sie in geschäftsmäßigem Ton. »Ihr Bruder Martin is aus dem Haus, wo er arbeitet, verschwund’n, ohne ihr oder sons jemand was zu sag’n. Das is jetz drei Tage her.«
Tellman schürzte die Lippen und zog finster die Brauen zusammen. Beim Gehen hingen seine Schultern ein wenig herab, als seien seine Muskeln verkrampft. Es war ein lauer Abend, die Straßenlaternen brannten schon, und die von der Themse herüberstreichende leichte Brise brachte einen Geruch nach Feuchtigkeit mit sich. Auf der Straße war es still. In einiger Entfernung vor sich sahen sie eine Kutsche um die Ecke biegen, deren Geräusch leise zu ihnen herüberdrang. Auf der anderen Straßenseite unterhielten sich Männer lautstark miteinander.
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte Tellman in neutralem Ton. »Vermutlich hat man ihn auf die Straße gesetzt. Dafür kann es eine ganze Reihe von Gründen geben, und es muss nicht unbedingt seine Schuld sein.«
»So was hätt’ er ihr auf jeden Fall gesagt«, wandte Gracie rasch ein. »Er hat ihr aber nich mal ’ne Karte oder Blumen oder sons was zum Geburtstag geschickt.«
»Dass Menschen Geburtstage vergessen, kommt laufend vor«, entgegnete er. »Daraus kann man nicht den Schluss ziehen, dass etwas nicht stimmt – schon gar nicht, wenn jemand weder Arbeit noch ein Dach über dem Kopf hat!«, fügte er brummig hinzu.
Ihr war klar, dass er sich über die Ungerechtigkeit ereiferte, die es seiner Überzeugung nach bedeutete, in so extremer Weise von anderen Menschen abhängig zu sein. Obwohl Gracie wusste, dass er diesmal nicht sie damit meinte, ärgerte es sie, vielleicht, weil sie nicht wollte, dass er Recht behielt. Außerdem empfand sie eine leise Furcht, und sie wollte nicht unbedingt hören, auf welche Möglichkeiten ein Polizeibeamter in diesem Fall verfiel.
»Er hat aber ihr’n Geburtstag noch nie vergess’n«, hielt sie dagegen. Inzwischen musste sie wieder schneller gehen, weil er unwillkürlich wieder auf die gewohnte Weise ausschritt. »Seit er acht Jahre alt war«, setzte sie hinzu.
»Vielleicht hat man ihm früher noch nie den Stuhl vor die Tür gesetzt«, gab er zu bedenken.
»Von mir aus tun wir mal so, als wenn das stimmen würde. Warum hat ihr der Butler das dann aber nich gesagt?«, parierte sie, ohne seinen Arm loszulassen.
»Vielleicht, weil ihn so etwas nichts angeht. Ein guter Butler spricht nicht mit Außenstehenden über unangenehme Vorfälle im Hause. Das müssten Sie eigentlich besser wissen als ich.« Mit leicht emporgezogenem Mundwinkel sah er zu ihr hin, als erwarte er eine Antwort. Sie hatten sich schon früher heftig darüber in den Haaren gelegen, dass Dienstboten ihrer Herrschaft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind und jegliche Sicherheit in ihrem Leben von einem Augenblick auf den anderen dahin sein konnte: die regelmäßigen Mahlzeiten, das Dach über dem Kopf und die ganze übrige Behaglichkeit des Daseins.
»Ich weiß, worauf Se rauswoll’n«, sagte sie ärgerlich und entzog ihm den Arm. »Un ich bin’s leid, Ihn’n immer wieder sag’n zu
müss’n, dass das nich überall so is! Natürlich gibt’s schlechte Häuser un böse Menschen, aber auch gute. Aber könn’ Se sich vorstell’ n, dass mich Mrs Pitt auf die Straße setz’n würde, wenn ich mal verschlafen hab oder vorlaut war un ihr Widerworte gege’m hab ... oder aus
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