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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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freundlich.
    Gracie zögerte. Zwar bedeutete es einen gewissen Trost, so gut verstanden zu werden, aber sie schämte sich nach wie vor, die Sache Tellman gegenüber so tölpelhaft angepackt zu haben. Das war umso schlimmer, weil sie sich ihm gegenüber bis dahin eigentlich immer ziemlich gewitzt verhalten hatte. Sicher wäre Charlotte von ihr enttäuscht, denn sie hätte vermutlich mehr von ihr erwartet. Bei einer Frau setzte man ein geschickteres Vorgehen voraus als das, was sie sich da geleistet hatte. Wieder nahm sie ein Schlückchen von ihrem Tee. Er war wirklich zu heiß. Sie hätte noch warten sollen.
    »Hast du noch etwas in Erfahrung gebracht?«, wollte Charlotte wissen.
    Die Antwort darauf fiel ihr nicht schwer. »Eigentlich nich. Obwohl sie dem Butler gesagt hat, dass sie Geschwister sind, hat der ihr nich gesagt, was los is oder wo Martin hin is.«
    Charlotte hielt den Blick auf den Tisch gerichtet. »Wie du weißt, ist Mr Pitt nicht mehr bei der Polizei. Wir könnten aber
Mr Tellman fragen – vielleicht sieht er eine Möglichkeit, uns zu helfen.«
    Gracies Wangen glühten heiß. Es gab keinen Ausweg mehr. »Das hab ich schon gemacht«, gestand sie kleinlaut, den Blick starr vor sich gerichtet. »Er sagt, er kann nix mach’n, weil Martin tun und lass’n darf, was er will, ohne seiner Schwester was sag’n zu müss’n. Das wär’ nich strafbar, meint er.«
    »Ich verstehe.« Eine Weile saß Charlotte schweigend da. Vorsichtig setzte sie die Tasse an die Lippen und trank. Der Tee war nicht mehr zu heiß. »Dann müssen wir eben selbst etwas unternehmen«, sagte sie schließlich. »Berichte mir alles, was du über die beiden Geschwister und über den Haushalt der Familie Garrick weißt.«
    Gracie kam sich vor wie ein Seemann, der nach langer Irrfahrt endlich Land am Horizont sieht. Es gab etwas, was sie tun konnte! Eifrig teilte sie Charlotte in Einzelheiten mit, was sie wusste. Dabei versäumte sie nicht, die entscheidenden Punkte hervorzuheben: Tildas absolute Ehrlichkeit wie auch ihre Dickköpfigkeit, die Kindheitserinnerungen, von denen sie gesprochen hatte, ihren Traum, eines Tages Mann und Kinder zu haben, und alles, was sie in den Jahren, in denen sie und ihr Bruder einsam herangewachsen waren, gemeinsam mit ihm unternommen hatte.
    Charlotte hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Schließlich nickte sie. »Ich glaube, es gibt durchaus Grund, sich Sorgen zu machen«, sagte sie. »Wir müssen in Erfahrung bringen, wo sich der junge Mann aufhält und wie es ihm geht. Sofern er keine Stellung hat und es ihm zu peinlich ist, das seiner Schwester zu gestehen, sollten wir dafür sorgen, dass sie die Situation richtig versteht, und zusehen, ob wir ihm helfen können, etwas zu finden. Du weißt wohl nicht, ob er unter Umständen eine Dummheit begangen hat?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Gracie. »Tilda würd so was nie im Leben mach’n, aber das muss nix heiß’n. Sicher würd se von ihm dasselbe sag’n – aber se is ja auch seine Schwester.«
    »Ja, oft fällt es schwer, Böses über die eigenen Angehörigen zu denken«, bestätigte Charlotte.
    Mit großen Augen sah Gracie sie an. »Un wie soll ’s jetz weitergeh’ n?«
    »Du sagst deiner Freundin, dass wir ihr helfen werden. Als Erstes versuche ich etwas über die Familie Garrick in Erfahrung zu bringen. Zumindest der Hausherr, Mr Stephen Garrick, dürfte wissen, was vorgefallen ist, auch wenn er möglicherweise nicht sagen kann, wo sich Martin Garvie zurzeit aufhält.«
    »Danke«, sagte Gracie sehr ernst. »Vielen, vielen Dank.«
     
    Vier Tage nach der Entdeckung des Mordes an Edwin Lovat forderte ein Zeitungsartikel unverhüllt Saville Ryersons Festnahme, auf jeden Fall aber seine Vernehmung durch die Polizei. Man wisse, erklärte der Verfasser, dass er sich zur fraglichen Zeit am Tatort aufgehalten habe, und indem er die Frage stellte, was er dort zu suchen hatte, legte er dem Leser die Antwort nahe.
    Mit bleichem Gesicht und fest zusammengepressten Lippen saß Pitt am Frühstückstisch. Es wurde immer schwieriger, dem Verlangen des Premierministers nachzukommen, man möge Ryerson aus der Sache heraushalten. Charlotte unterbrach seine quälenden Gedanken weder mit Worten noch auf andere Weise.
    Unauffällig sah sie zu ihm hinüber. So gern sie ihn getröstet hätte, so fest war sie von Ryersons Schuld überzeugt. Gewiss, er hatte wohl die Tat nicht begangen, doch war er nachweislich am Versuch beteiligt gewesen, sie zu vertuschen. Wäre

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