Die Frau aus Alexandria
Blick zu Jack hinüber und erkannte seine eigene Wut auf dessen Zügen gespiegelt. Vielleicht dachte auch er an sein kaum dem Säuglingsalter entwachsenes Töchterchen.
»Weißt du das genau?«, fragte Pitt leise.
»Ja. Ich nehme an, du willst Namen wissen?«
»Nein, will ich nicht, aber ich muss«, gab Pitt zur Antwort. »Glaub mir, nichts wäre mir lieber, als wenn die armen Geschöpfe ihren Kummer für sich behalten könnten. Aber wenn wir den Täter nicht überführen, wird der falsche Mann gehängt ... oder die falsche Frau.«
»Sicher hast du Recht.« Jack nannte vier Namen und erklärte Pitt, wo man die Frauen unter Umständen finden konnte.
Pitt brauchte sie nicht aufzuschreiben. Ohnehin wäre es ihm weit lieber gewesen, er hätte sie erst gar nicht hören und die Frauen nicht befragen müssen. Er konnte sich gut ausmalen, was sie empfanden. Vorstellungskraft war bei seiner Arbeit nützlich, zugleich aber auch ein Fluch.
Aufgeregt und begeistert kam der Hund zurück, ließ das Stück Holz vor Pitts Füßen fallen und tänzelte herum, während er darauf wartete, dass Pitt es erneut warf. Es kam wohl nicht oft vor, dass jemand bereit war, mit ihm zu spielen, der das Spiel verstand.
Pitt tat ihm den Gefallen, und wieder jagte das Tier davon. Schon lange hätte er liebend gern einen Hund gehabt. Er würde Charlotte einfach sagen, dass sich die beiden Kater damit abfinden müssten.
»Du könntest Emily fragen«, sagte Jack unvermittelt mit einem Blick auf Pitt und biss sich verlegen auf die Lippe. »Ihr fällt so manches an anderen Menschen auf ...« Er ließ den Satz unvollendet. Beide erinnerten sich an frühere Fälle, an denen Charlotte und Emily mitgewirkt hatten. Zwar war es dabei mitunter zu gefährlichen Situationen gekommen, doch hatte die Fähigkeit der Schwestern, Dinge diskret zu behandeln und Zwischentöne herauszuhören, die anderen Menschen entgingen, so manches Mal den Schlüssel zur Lösung geliefert.
»Du hast Recht«, erwiderte Pitt, überrascht, dass er nicht selbst darauf gekommen war. »Das werde ich tun. Meinst du, sie ist zu Hause?«
Mit einem Mal musste Jack lächeln. »Keine Ahnung.«
Es dauerte zwei Stunden, bis Pitt Emily fand. Ihr Butler hatte ihm mitgeteilt, sie besuche gerade eine jüngst eröffnete Kunstausstellung und werde anschließend lediglich nach Hause kommen, um sich für eine Abendgesellschaft im Hause Lady Mansfields in Belgravia umzukleiden.
Pitt hatte ihm gedankt, sich den Weg zur Ausstellung beschreiben lassen und sich sofort dorthin aufgemacht.
Die Gemäldegalerie war voller prächtig herausgeputzter Damen. Einige wurden von Herren begleitet, mit denen sie tändelten, wenn sie nicht gerade wortreiche und bedeutungsschwere Kommentare über die ausgestellten Bilder von sich gaben.
Pitt warf einen kurzen Blick auf die Exponate, was er sogleich bedauerte, weil er keine Zeit hatte, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Er fand sie nicht nur sehr schön, sondern auch ausgesprochen fesselnd. Sie waren auf eine Weise impressionistisch gemalt, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl alles undeutlich und verschwommen war, hatte man den Eindruck, das Licht förmlich zu sehen, und das gefiel ihm außerordentlich.
Aber er war nicht gekommen, um seinem Kunstinteresse nachzugehen, sondern um Emily zu finden, bevor sie wieder ging. Das kostete nicht nur Konzentration, sondern auch beträchtliche Energie, weil er sich, immer wieder um Entschuldigung bittend, zwischen Gruppen plaudernder Menschen hindurchdrängen musste. Dabei versperrten ihm die weiten, sich raschelnd aneinander reibenden Röcke der Damen den Weg in jede Richtung. Es konnte nicht ausbleiben, dass er sich immer wieder unfreundliche, teils sogar erzürnte Blicke einhandelte und hier und da ein gemurmeltes »Ich muss schon sagen!« zu hören bekam, doch konnte er es sich unmöglich leisten zu warten, bis sie weitergingen und ihm auf diese Weise Platz machten.
Er fand Emily im dritten Saal, wo sie sich mit einer jungen Frau unterhielt. Der Hut, den diese zu einem kornblumenblauen Kleid trug, stand ihr, wie er fand, blendend. Er erzeugte eine optische Spannung, die sie ohne ihn sicher nicht hätte hervorrufen können.
Während er noch überlegte, wie er Emilys Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, ohne unhöflich zu sein, entdeckte sie ihn. Das mochte daran liegen, dass er völlig fehl am Platz wirkte und in keiner Weise zu den Menschen um ihn herum passte. Sogleich trat ein besorgter Ausdruck
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