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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Umständen nicht besonders tief, in anderen dafür umso mehr.
    Pitt dankte seiner Schwägerin und verließ die Galerie.
     
    An jenem Abend, wie an allen folgenden, erkundigte sich Pitt unauffällig danach, wo sich die von Emily genannten Damen zur Tatzeit aufgehalten hatten. Jede hatte ein einwandfreies Alibi. Ohnehin lag die seelische Verletzung in einigen Fällen so lange zurück oder war so beschaffen, dass eine Rache an Lovat der Betreffenden mehr Schmerzen zugefügt hätte als ihm. Pitt konnte die Sache drehen und wenden, wie er wollte: Alles wies auf eine Täterschaft Miss Sacharis hin, womit sich auch Ryerson schuldig gemacht hätte.
    Am folgenden Tag fuhr er zum Militärarchiv, um Einblick in Lovats Personalakte zu nehmen. In erster Linie ging es ihm um dessen Dienstzeit in Ägypten. Möglicherweise stieß er dabei auf etwas, das ein neues Licht auf den Charakter des Mannes oder dessen Beziehungen zu seinen Kameraden warf. Vielleicht gab es sogar Hinweise auf eine andere Fährte, die sich zu Miss Sachari zurückverfolgen ließ. Er wollte unbedingt etwas entdecken, was es ihm
ermöglichte, im Vorfall von Eden Lodge einen Sinn zu erkennen. Staunend merkte er, dass er am liebsten eine Rechtfertigung für das entdeckt hätte, was er ohnehin anzunehmen genötigt war: dass die Ägypterin Lovat erschossen hatte. Da Ryerson so eng mit ihr verbunden war, hatte er sich dazu hergegeben, ihr bei der Vertuschung des Verbrechens zu helfen.
    Doch aus den Unterlagen im Militärarchiv ergab sich nichts Neues. Lovat schien seinen Aufgaben mehr als gewachsen gewesen zu sein, er hatte eine natürliche Begabung für den Umgang mit Menschen gehabt und gewusst, wie man sich in der Gesellschaft bewegt.
    In seiner militärischen Laufbahn gab es keinen dunklen Punkt, und man hatte ihn ehrenhaft als dienstunfähig entlassen, weil ein Fieber, das während seiner Stationierung in Alexandria bei ihm ausgebrochen war, seine Gesundheit zerrüttet hatte. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf Feigheit oder Pflichtverletzung. Lovat war nicht nur ein guter Soldat gewesen, sondern auch allgemein beliebt.
    Ob diese Darstellung den Tatsachen entsprach? Oder hatte jemand sorgfältig alle Hinweise getilgt, die einer späteren Karriere schaden konnten? Nicht zum ersten Mal wäre Pitt auf die Spur einer stillschweigenden Übereinkunft gestoßen, der Freundestreue den Vorrang vor der Wahrheit einzuräumen, um in erster Linie den Ehrenschild der Einheit blank zu halten, in der man diente.
    In der Akte ließ sich keine Antwort auf diese Fragen finden, und von den Beamten, die er dort antraf, war nichts zu erfahren. Erstens wussten sie keine Einzelheiten, vor allem aber hatte man ihnen eingetrichtert, dass sie nicht spekulieren sollten. So bekam er als einzige Antwort auf seine Fragen nichts sagende und ausdruckslose Blicke.
    Damit blieb nur die Annahme, dass sich Lovat im Privatleben Feinde gemacht hatte. Der Beschreibung der Menschen nach, die ihn gekannt hatten, war er ein athletisch gebauter, anziehender junger Mann gewesen, der zwar nicht im landläufigen Sinne gut
aussah, dafür aber einen verführerischen Charme besaß. Er war ein guter Tänzer gewesen, hatte die Kunst der gepflegten Konversation beherrscht und die Musik geliebt. Er war ein begeisterter und guter Sänger gewesen, der stets die Texte der jeweils beliebtesten Lieder gekannt hatte.
    »Keine Ahnung, was mit ihm nicht gestimmt hat«, sagte ein älterer Oberst, dem Pitt an jenem Spätnachmittag im Army and Navy Club in Pall Mall gegenübersaß. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Glas alter Cognac, und obwohl die Hitze seine Stiefelsohlen versengte, nahm er die Füße nicht von der metallenen Kaminumrandung. Betrübt den Kopf schüttelnd, fuhr er fort: »So viele reizende junge Mädchen, die eine glänzende Ehefrau abgegeben hätten. Aber kaum sah es danach aus, als könnte er eine kriegen, hat er das Interesse an ihr verloren, war mit ihr nicht mehr zufrieden, was weiß ich ... Ich nehme an, er hat Angst vor der eigenen Courage bekommen und sich dann an die Nächste rangemacht.« Er schob die Unterlippe vor. »Dabei war er nicht mal besonders wählerisch. Hatte eine ausgesprochen laxe Moralauffassung. Tut mir Leid, das sagen zu müssen.«
    Pitt schob sich ein wenig vom Kamin fort. Das Feuer gab weit mehr Hitze ab, als an diesem milden Septembertag nötig gewesen wäre. Oberst Woodside allerdings schien weder etwas von der Hitze noch von dem brandigen Geruch zu merken, der von seinen

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