Die Frau aus Alexandria
auf ihre Züge, sie entschuldigte sich rasch bei der Dame in Blau und trat zu ihm.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er sie.
»Ich hatte auch nichts anderes angenommen«, sagte sie, ohne ihren Gesichtsausdruck im Geringsten zu verändern. »Ich habe nur befürchtet, vor Langeweile einzuschlafen und umzufallen. Schließlich gibt es hier weit und breit nichts, worauf man sich stützen könnte.«
»Gefallen dir die Bilder denn nicht?«, fragte er.
»Thomas, sei nicht albern. Niemand kommt wegen der Bilder hierher. Alle werfen nur einen flüchtigen Blick darauf, um etwas darüber zu sagen, was sie für tiefschürfend halten, und hoffen, dass ihnen andere das nachplappern. Was willst du überhaupt hier? Die Gemälde sind doch nicht etwa gestohlen, oder?«
»Nein.« Wider Willen musste er lächeln. »Jack meint, du könntest mir vielleicht helfen.«
Ihr Gesicht leuchtete vor Interesse auf. »Gern und jederzeit!«, sagte sie eifrig. »Was kann ich tun?«
»Ich brauche ein paar Angaben und vielleicht auch dein Urteil.«
»Über wen?« Sie hängte sich bei ihm ein und wandte sich einem der Bilder zu, als wolle sie es gründlich studieren.
Die Galerie war nicht unbedingt die ideale Umgebung für eine diskrete Unterhaltung über intime Dinge, doch wenn er leise sprach, würde er keinerlei Aufmerksamkeit erregen, und vermutlich konnte dann auch niemand mithören.
»Leutnant Edwin Lovat«, sagte er, ebenfalls den Blick fest auf das Bild gerichtet.
Sie erstarrte ein wenig, hatte aber ihre Züge vollständig in der Gewalt. »Ach, beschäftigst du dich mit dem Fall?« In ihrer Stimme schwang Erregung. Sie nahm das Wort Sicherheitsdienst nicht in den Mund, weil ihr bewusst war, wie gefährlich die geringste unbedachte Äußerung sein konnte, doch war ihm klar, dass ihr die verschiedensten Vorstellungen durch den Kopf jagten.
»Ja«, sagte er im Flüsterton. »Sag mir, was du über ihn weißt oder gehört hast ... Du solltest aber bitte deutlich zwischen beidem trennen.«
Sie sah weiter scheinbar konzentriert das Bild an, auf dem Licht durch Bäume auf eine Wasserfläche fiel. Es strahlte eine ruhige Schönheit aus, wirkte wie die Einsamkeit eines windstillen Sommertags. Man erwartete, jeden Augenblick den Schimmer von Libellenflügeln über dem Wasser zu sehen.
»Mir ist bekannt, dass er in gefährlicher Weise unglücklich war«, vertraute sie ihm an. »Er hat in mehreren Fällen den Anschein erweckt, als hätte er sich mehr oder weniger in eine Frau verliebt, ist dann aber davongelaufen, kaum dass er ihre Zuneigung gewonnen hatte – fast so, als hätte er Angst, dass sie ihn näher kennen lernen könnte. Damit hat er großen Schaden angerichtet, was ihm aber, wie es aussieht, nie so Leid getan hat, dass er es nicht bald darauf wieder genauso gemacht hätte. Sollte ihn die Ägypterin nicht umgebracht haben, gibt es eine ganze Reihe anderer Kandidatinnen, bei denen du dich erkundigen könntest.«
»In gefährlicher Weise unglücklich?«, wiederholte er.
»Nun, so wie er verhält sich doch nur jemand, der von irgendetwas getrieben wird, oder?«, gab sie zurück, nach wie vor ohne ihn anzusehen. »Wer selbstsüchtig oder habgierig ist, heiratet von mir aus wegen der Schönheit, weil es ihm um das Geld oder ein Adelsprädikat geht. Aber so, wie er vorgegangen ist, konnte er sich nur Feinde machen. Ganz offensichtlich war er nicht so dumm, dass er das nicht gewusst hätte, und trotzdem hat er sich so verhalten.«
Schweigend dachte Pitt eine Weile über Emilys Theorie nach. So hatte er die Dinge noch nicht gesehen.
Sie wartete.
»Glaubst du, dass seine Gedanken in diese Richtung gegangen sind?«, fragte er schließlich.
»Du hast nicht gesagt, dass du von mir logische Folgerungen hören willst, sondern mich gefragt, was ich von Leutnant Lovat halte.«
»Stimmt. Danke. Kannst du mir sagen, um wen es sich bei den betroffenen Damen handelt?«
»Selbstverständlich«, sagte sie und hob ihre Hand, als wolle sie ihm die Lichtführung auf dem Bild verdeutlichen. Dann zählte sie ein halbes Dutzend Namen auf. Er schrieb sie nieder, zusammen mit der jeweiligen Adresse und knappen Kommentaren zu den gesellschaftlichen Aktivitäten, mit denen sie sich die Zeit vertrieben. Es war Pitt bewusst, dass es Frauen waren, die sich in ihren Hoffnungen getäuscht sahen, von Lovat gedemütigt und beschämenden Situationen ausgesetzt worden waren, Menschen, deren Gefühle er verletzt hatte – im einen oder anderen Fall unter
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