Die Frau aus Alexandria
eingesunken.
Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte sich Pitt. Er versuchte sich zu entspannen, doch gelang ihm das nicht. Er war innerlich so angespannt, dass ihn der Rücken schmerzte und die Hände sich steif anfühlten.
»Nichts, was die Hoffnung auf eine befriedigendere Antwort zuließe«, gab er zurück. Er drückte sich mit voller Absicht so schroff aus, ungeachtet dessen, dass ihn schmerzte, was er zu sagen hatte, und es Narraway vermutlich ebenfalls schmerzen würde. »Lovat war ein Herzensbrecher, der sich an unverheiratete achtbare junge Frauen herangemacht hat. Kaum hatte er eine durch die Beziehung zu ihm in eine unmögliche Lage gebracht, hat er sie fallen lassen und ist zur nächsten weitergezogen, während sich alle Welt insgeheim fragte, bei welcher unverzeihlichen Sünde er die vorige ertappt haben mochte.«
Mit schmalen Lippen sagte Narraway angewidert: »Reden Sie doch nicht so um den heißen Brei herum, Pitt. Sie wissen so gut wie ich, welche Sünde die feine Gesellschaft den jungen Damen unterstellt hat, ob zu Recht oder Unrecht. Solchen Leuten ist nicht wichtig, wer oder was man ist, sondern lediglich das, was andere von einem halten. Die Unbeflecktheit einer Frau ist ihnen wichtiger als moralischer Mut, menschliche Wärme, Mitgefühl, die Fähigkeit zu lachen oder Aufrichtigkeit. Ihre Keuschheit bedeutet, dass sie Besitz des Mannes ist, zu dem sie gehört. Es ist alles eine Frage von Eigentum.« Die Bitterkeit, mit der er das sagte, ging nicht nur auf seinen Zynismus zurück – Pitt hätte geschworen, dass auch Schmerz in seiner Stimme mitschwang.
Dann überlegte er, was er selbst empfinden würde, wenn sich Charlotte von einem anderen in vertrauter Weise berühren ließe, ganz davon zu schweigen, dass sie dessen Leidenschaft erwiderte. Diese Vorstellung ließ alle in Narraways Worten enthaltenen Vernunftgründe dahinschwinden.
»Es ist aber wichtig«, sagte er mit solchem Nachdruck, dass jeder seine Entschlossenheit merken musste, sich auf keine Diskussion darüber einzulassen.
Narraway lächelte, sah ihn aber nicht an. »Sprechen Sie ganz allgemein, oder kennen Sie die Namen einiger dieser jungen Frauen? Wichtiger noch wären die ihrer Väter, Brüder oder weiterer Liebhaber, denen unter Umständen daran liegen konnte, Lovat quer durch ganz London zu folgen, um ihn zu erschießen.«
»Selbstverständlich«, gab Pitt zurück. Zwar war er froh, dass er jetzt festeren Boden unter den Füßen hatte, doch kam es ihm ganz so vor, als hätte er etwas Wichtiges noch nicht gesagt. Lag das ausschließlich daran, dass seine Gefühle zu überwältigend waren, als dass sie sich in wenigen, einfachen Worten ausdrücken ließen, oder gab es da etwas Wichtiges, das ihm im Augenblick noch nicht klar war?
»Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat Sie das alles nicht weitergebracht«, sagte Narraway.
»Uns«, korrigierte ihn Pitt bissig. »Nein, nichts davon.«
Er war erstaunt zu sehen, wie die Hoffnung in Narraways Augen erlosch. Es schmerzte ihn ein wenig.
Als er Pitts Blick auf sich gerichtet fühlte, wandte sich Narraway halb ab, als wolle er etwas in seinem Inneren verbergen. »Sie haben also nichts erfahren, außer dass sich Lovat die Katastrophe selbst zuzuschreiben hat?«
Zwar hätte man das weniger verletzend sagen können, aber es entsprach im Wesentlichen den Tatsachen. »Ja.«
Narraway holte Luft, als wolle er etwas sagen, schwieg dann aber.
»Ich war bei Ryerson«, begann Pitt von sich aus. »Er ist nach wie vor von Miss Sacharis Unschuld überzeugt.«
Narraway sah ihn mit gehobenen Brauen an.
»Wollen Sie damit durchblicken lassen, dass er nicht daran denkt, zurückzutreten und zu erklären, dass Lovat bei seinem Eintreffen bereits tot war?«, fragte Narraway »Er würde sich damit einen großen Gefallen tun.«
»Ich weiß nicht, was er sagen wird. Die Polizei weiß, dass er am Tatort war, also kann er das nicht bestreiten.«
»Dazu wäre es ohnehin zu spät«, entgegnete Narraway mit plötzlicher Bitterkeit. »In der ägyptischen Botschaft weiß man das bekanntlich ebenfalls. Zwar habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um festzustellen, woher die Leute diese Information haben, dabei aber lediglich erfahren, dass sie nicht im Traum daran denken, mir das zu sagen.«
Ganz langsam setzte sich Pitt aufrechter hin. Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, was Narraway unterdessen getan haben mochte, doch plötzlich durchfuhr ihn wie ein Blitz die Erkenntnis, wie
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