Die Frau aus Alexandria
werden.«
Narraway schoss mit dem Oberkörper vor wie ein Boxer beim Angriff. »Ach was«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Solange wir nichts Besseres anbieten, geht das automatisch durch. Überlegen Sie doch, Pitt! Ein mittelloser einstiger Liebhaber, ein gesellschaftlicher Niemand, wird um drei Uhr nachts tot im Garten dieser Frau aufgefunden. Sie steht da mit der Leiche auf der Schubkarre,
und ihre Pistole liegt daneben im Gras. Was soll man da sonst denken?«
Pitt spürte fast körperlich, wie ihn die Dinge mit ihrem Gewicht zu erdrücken schienen. »Wollen Sie damit sagen, dass wir nur so tun, als suchten wir nach einer möglichen Verteidigung?«, fragte er ganz ruhig. »Warum? Damit Ryerson glaubt, man habe ihn nicht im Stich gelassen? Ist denn das so wichtig?«
Narraway wich seinem Blick aus. »Unser Auftrag kommt von Männern, die eine andere Sicht der Dinge haben als wir«, sagte er. »Ihnen liegt nicht das Geringste an Miss Sachari, aber sie brauchen Ryerson und wollen unbedingt, dass er heil aus der Geschichte herauskommt. Er hat seinem Land lange und gut gedient. Sein Verdienst ist es, dass die Baumwollindustrie mit ihren Zehntausenden von Arbeitsplätzen in und um Manchester herum gedeiht. Sofern es nicht zu einer Einigung über die Rohstoffpreise kommt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Streik geben. Haben Sie eine Ahnung von den Auswirkungen? Er würde nicht nur die Arbeiter in den Webereien treffen, sondern all die Menschen, deren Einkommen von ihnen abhängt – Exporteure, Händler, kleine Geschäftsinhaber und am Ende mehr oder weniger jeden, angefangen von den Immobilienmaklern bis hinunter zu den Männern, die auf der Straße den Pferdemist zusammenkehren, weil sie hoffen, dass ihnen jemand dafür ein paar Halfpennies zuwirft.«
»Für die Regierung wäre es ausgesprochen peinlich, wenn sich herausstellen sollte, dass Ryerson der Frau Beihilfe geleistet hat«, entgegnete Pitt, »aber falls es sich so verhält, muss man eben einen anderen ernennen, der sich um den Ägyptenhandel kümmert. Wenn ich überlege, wie sich Ryerson im Mordfall Lovat bisher verhalten hat, wäre es mir ehrlich gesagt lieber, mich bei einer nationalen Krise nicht auf ihn verlassen zu müssen.«
Narraway stieg die Röte in die bleichen Wangen, und seine Hand umklammerte die Schreibtischplatte, aber er unterdrückte seinen Zorn. »Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Pitt beugte sich zu ihm vor. »Dann sagen Sie es mir!«, verlangte er. »Bis jetzt habe ich nichts weiter gesehen als einen Mann, der eine Affäre mit einer äußerst unpassenden Frau kultiviert und entschlossen ist, ihr sogar dann beizustehen, wenn sie einen Mord auf sich geladen haben sollte. Er kann ihr nicht helfen, denn seine Aussage macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Entweder ist ihm das nicht klar, oder er ist von so unglaublicher Hochnäsigkeit, dass er annimmt, seine Mitwirkung an der Sache werde die Frau auf jeden Fall retten – oder ihm ist einfach alles völlig gleichgültig.«
Narraway drehte sich im Sessel beiseite. »Seien Sie nicht töricht, Pitt! Natürlich sind ihm die Konsequenzen klar. Die Sache wird ihn zugrunde richten. Wenn wir keinen anderen Hergang der Tat beweisen können, ist es sogar möglich, dass er ebenfalls gehängt wird.« Er sah Pitt wieder an und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Stellen Sie also fest, wer sonst noch mit der Frau zu tun hatte oder Lovat so sehr hasste, dass er Grund hatte, ihn umzubringen. Und liefern Sie mir Beweise. Haben Sie verstanden? Kein Wort zu wem auch immer. Seien Sie diskret, besser gesagt – gehen Sie so vor, dass niemand etwas merkt. Stellen Sie Ihre Fragen mit Umsicht und dem Feingefühl, für das Sie, wie mir Cornwallis versichert hat, berühmt sind. Bringen Sie alles in Erfahrung, reden Sie aber mit keiner Menschenseele über die Sache.« Er sah Pitt an, als könne er jeden einzelnen seiner Gedanken lesen. »Wenn Sie bei diesem Fall versagen, kann ich Sie nicht brauchen. Denken Sie daran! Ich will wissen, wie es wirklich war, und ich will der Einzige sein, der das erfährt.«
Ein kalter Schauer überlief Pitt. Er war wütend, zugleich aber hätte er auch gern gewusst, warum die Angelegenheit seinem Vorgesetzten so nahe ging. Es war unübersehbar, dass er ebenso viel Wissenswertes zurückhielt, wie er Pitt mitteilte, wenn nicht sogar mehr. Trotzdem verlangte er absolute Loyalität. Wen deckte er, und warum?
Weitere Kostenlose Bücher