Die Frau aus Alexandria
auf dem polierten Holzboden des Vestibüls waren seine Schritte zu hören.
Eine Viertelstunde später brachte er Pitt ein in weißes Leder gebundenes Buch und ein Blatt Papier.
Pitt nahm beides dankend an sich und verabschiedete sich. Das Buch war durchaus aufschlussreich. Da es mehr Namen enthielt, als er angenommen hatte, würde er eine ganze Weile brauchen, um festzustellen, um wen es sich jeweils handelte. Von dem Blatt mit den Namen nahm er an, dass es für ihn nicht den geringsten Wert haben würde.
Er verbrachte den Rest des Tages damit, die im Buch vermerkten Besucher zu identifizieren. Tageszeiten waren nicht angegeben, lediglich Daten. Eine ganze Anzahl der Männer hatte auf die eine oder andere Weise mit dem Baumwollhandel zu tun, doch gab es auch Maler, Dichter, Musiker und Geisteswissenschaftler. Gern
hätte er gewusst, aus welchem Anlass sie Miss Sachari aufgesucht hatten, was Saville Ryerson von diesen Besuchen hielt und ob er von ihnen wusste.
Am nächsten Morgen wurde Pitt beim Frühstück die Mitteilung überbracht, er solle sich binnen einer Stunde bei Narraway einfinden. Er legte Messer und Gabel beiseite. Mit einem Mal schmeckten ihm seine Bücklinge nicht mehr.
Es war ihm noch nicht bei allen Namen gelungen festzustellen, um wen es sich handelte, und es ärgerte ihn, dass er zum Rapport befohlen wurde, solange er nichts Rechtes vorzutragen hatte.
Eine halbe Stunde später berichtete er Narraway von seinem Besuch in Eden Lodge und den Namen, die er teils im Besucherbuch, teils auf der vom Diener der Ägypterin zusammengestellten Liste gefunden hatte.
Nachdenklich saß Narraway da. Wenn man sein Gesicht mit den unübersehbaren Spuren der Übermüdung sah, hätte man annehmen können, er habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Einen Moment lang trat eine Art Hoffnungsschimmer auf seine Züge, doch er bemühte sich sogleich, ihn zu unterdrücken.
»Und Sie glauben, dass sie Lovat für einen von denen gehalten hat?«, fragte er zweifelnd, lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete Pitt mit halb geschlossenen Lidern.
»Das scheint mir mehr Sinn zu ergeben als die Annahme, sie habe gewusst, dass es Lovat war, und ihn erschossen«, gab Pitt zur Antwort.
»Aber nein«, sagte Narraway bitter. »Nehmen wir einmal an, Lovat hätte sie erpresst und auf Zahlung bestanden. In dem Fall konnte sie die Gelegenheit nutzen, ihn zu erschießen und der Sache damit ein Ende zu bereiten. Das klingt absolut plausibel, und so werden die Geschworenen das wohl auch sehen.«
»Womit könnte er sie erpresst haben?«, fragte Pitt.
»Lieber Gott! Benutzen Sie Ihren Verstand! Diese Frau, über deren Hintergrund niemand etwas weiß, ist jung und schön. Ryerson ist zwanzig Jahre älter, wegen seiner hohen Position in der
Öffentlichkeit bekannt und verletzlich ...« Das letzte Wort sagte er so bedrückt, als spräche er von seiner eigenen Seelenqual. Lautlos holte er Luft. »Möglicherweise ist ihm bewusst, dass sie andere Liebhaber hat – wenn er etwas anderes annähme, wäre er sogar ein ausgemachter Dummkopf. Das heißt aber nicht unbedingt, dass er alles über diese Männer wissen will, schon gar nicht in Einzelheiten.«
Pitt versuchte sich in Ryersons Lage zu versetzen, doch gelang es ihm nicht. Wer sich wegen ihrer körperlichen Vorzüge, ihres exotischen Hintergrundes und ihrer Bereitschaft, Geliebte statt Gattin zu sein, für eine Frau entschied, nahm doch sicherlich in Kauf, dass er weder der Erste war, noch der Letzte sein würde. Eine solche Beziehung hatte so lange Bestand, wie beide Seiten einen Vorteil daraus zogen.
Doch als er jetzt Narraway ansah, wies nichts darauf hin, dass dieser die Situation so betrachtete. Er erkannte lediglich den Ausdruck einer tief wurzelnden Empfindung, zu der er die Außenwelt nicht zuließ, und er hatte den Eindruck, wenn er Narraway jetzt provozierte, würde das zu einer Missstimmung zwischen ihnen führen, die sich nicht ohne weiteres ausräumen ließe. Er konnte sich nicht vorstellen, warum ihm die Sache so nahe gehen sollte, doch war das unübersehbar der Fall.
»Und Sie glauben also, dass Lovat sie erpresst haben könnte, damit sie Stillschweigen über etwas bewahrte, das in Ägypten vorgefallen ist?«, fragte er.
’Jedenfalls wird der Vertreter der Anklage das annehmen«, sagte Narraway »Würden Sie das an seiner Stelle nicht auch tun?«
»Ja, sofern es keine anderen Hinweise gäbe«, erwiderte Pitt. »Aber das müsste bewiesen
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