Die Frau aus Alexandria
Wollte er sich selbst oder gar Pitt vor einer Gefahr bewahren, die dieser nicht erkannte, weil er noch nicht lange beim Sicherheitsdienst tätig war? Oder ging es um Ryerson? Schuldete
ihm Narraway aus irgendeinem Pitt unbekannten Grund dies Übermaß an Ergebenheit? Gern hätte er das Vertrauen seines Vorgesetzten gehabt – nicht nur, weil das seine Erfolgsaussichten gesteigert hätte, sondern auch, weil er sich in dem Fall selbst besser schützen konnte, wenn er auf Beweismittel stieß, die möglichen Gegnern gefährlich zu werden drohten. Aber es hatte keinen Sinn, ihn darum zu bitten. Narraway vertraute niemandem mehr, als unbedingt nötig war. Vielleicht hatte er auf diese Weise die Arbeit im Sicherheitsdienst überlebt, bei der man es mit einer Unzahl von Geheimnissen zu tun hatte und auf hunderterlei Arten verraten werden konnte.
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte Pitt kühl. »Und bestimmt werden Sie nicht der Einzige sein, der es erfährt!« Er sah, wie Narraway erstarrte, und empfand dabei eine gewisse Genugtuung, die dahinschwand, als er sich klar machte, wie wenig er wusste. »Ich bezweifle, dass ich mehr als einzelne Bruchstücke erfahren werde. Wer auch immer Lovat getötet hat, kennt die Wahrheit und wird in einem solchen Fall wissen, dass ich sie erfahren habe, vorausgesetzt, es handelt sich um einen ausgeklügelten Plan und nicht um die unbedachte Handlungsweise eines Menschen, der seine Gefühle nicht beherrscht, ob Mann oder Frau.«
»Aus genau diesem Grund habe ich Sie auf den Fall angesetzt, Pitt, und keinen meiner Spezialisten für die Jagd nach Anarchisten und Saboteuren«, sagte Narraway trocken. »Bei Ihnen darf man ein bisschen Takt und Fingerspitzengefühl voraussetzen. Zwar können Sie eine Bombe nicht von einer Obsttorte unterscheiden, aber man hat mir gesagt, dass Sie in Mordfällen ein fähiger Ermittler sind, vor allem bei Verbrechen, die aus Leidenschaft und nicht aus politischen Gründen begangen worden sind. Also machen Sie sich an die Arbeit! Spüren Sie die auf Ihrer Liste noch fehlenden Männer auf. Aber rasch! Es kann nicht mehr lange dauern, bis sich der Premierminister gezwungen sieht, Ryerson fallen zu lassen.«
Pitt stand auf. »Ja, Sir. Vermutlich können Sie mir sonst nichts sagen, was mir weiterhelfen würde?« Er gab sich keine Mühe zu
verbergen, dass er Narraways Heimlichtuerei durchschaut hatte, wenn er auch nicht wusste, was ihm vorenthalten wurde.
Narraway zog die Brauen zusammen. »Cornwallis vertraut Ihnen, und ich werde das künftig vielleicht auch tun. Noch aber ist es nicht so weit. Dafür müssten Sie mir eigentlich dankbar sein. Es kann Ihnen nur nützen, wenn Ihnen manches von dem verborgen bleibt, was ich weiß. Unter Umständen werden Sie dies Vorrecht im Laufe der Zeit verlieren und sich dann möglicherweise nach dem Stand der Unschuld zurücksehnen.« Er beugte sich ein wenig über den Schreibtisch vor. »Aber glauben Sie mir, Pitt, ich möchte, dass Ryerson gerettet wird, wenn das irgendwie möglich ist. Falls es etwas gäbe, was ich Ihnen sagen könnte, um Ihnen dabei zu helfen, würde ich das tun, ganz gleich, um welchen Preis. Sollte sich allerdings herausstellen, dass es sich um nichts weiter als einen einfachen Mord handelt und er mit dem Weibsstück gemeinsame Sache gemacht hat, um Lovat umzubringen oder auch nur um zu vertuschen, dass sie es getan hat, werde ich ihn ohne das geringste Zögern opfern. Es geht um bedeutendere Dinge, als Sie ahnen. Die darf man nicht aufgeben, um einen einzelnen Menschen zu retten... unabhängig davon, wer das ist.«
»Ein Streik der Baumwollarbeiter in Manchester?«, fragte Pitt gedehnt.
Narraway gab keine Antwort. »Gehen Sie an die Arbeit«, sagte er stattdessen. »Stehen Sie nicht herum und vergeuden Sie keine Zeit mit der Bitte um Hilfe, die ich Ihnen nicht gewähren kann.«
Pitt trat hinaus auf die Straße. Nach zwanzig Schritten kam er an einem Zeitungsjungen vorbei. Er sah, dass sich die Schlagzeilen geändert hatten, seit er aus der Gegenrichtung gekommen war, um Narraways Büro aufzusuchen.
Der Junge bemerkte sein Zögern. »Zeitung, Sir?«, fragte er eif rig. "Jetzt heißt es, man soll auch Mr Ryerson verhaften und zusammen mit der Ausländerin aufhängen! Woll’n Se alles darüber lesen, Sir?« Hoffnungsvoll hielt er ihm eine Zeitung hin.
Pitt musste sich sehr zusammennehmen, um den Jungen nicht barsch anzufahren. Er nahm das Blatt, zahlte und setzte seinen
Weg rasch fort. Er wollte
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