Die Frau aus Alexandria
»Ich weiß nicht, auf welche Weise ich der Angelegenheit weiter nachgehen könnte, Mrs Pitt. Die Polizei hat keinen Grund, in diesem Zusammenhang jemanden zu befragen. Man hat mich ohnehin schon mehr als einmal ziemlich schroff abgewiesen und mir mitgeteilt, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich musste so tun, als hätten meine Fragen mit einem Diebstahl zu tun, dessen Zeuge Mr Garrick möglicherweise geworden ist.« Sein gequälter Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie sehr er es verabscheute, sich zu einer Lüge hergegeben zu haben. Charlotte fragte sich, ob Gracie wusste, wie hoch der Preis war, den er ihr zuliebe gezahlt hatte. Die junge Frau arbeitete konzentriert am Herd, sodass sie den beiden den Rücken zukehrte. Nach einer Weile hob sie sorgfältig den Inhalt der Pfanne heraus, um die braune Kruste nicht zu beschädigen,
und legte ihn auf den Teller zu dem kalten Hammelfleisch. Möglicherweise war es ihr durchaus klar.
»Danke.« Tellman nahm ihr den Teller ab und begann nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern zu essen, sobald Charlotte genickt hatte, um anzuzeigen, dass er nicht warten solle.
»Un was mach’n wir jetz?«, fragte Gracie, zog das Feuer im Herd auseinander und füllte die Teekanne. »Er kann nich einfach verschwunden sein. Jedenfalls könn’ wir nich die Hände in ’n Schoß legen! Wenn was passiert is, is das ’n Verbrechen, egal ob es um beide geht oder nur um Martin.« Sie sah zu Charlotte hin. »Mein’ Se, Mr Garrick könnte Martin in ei’m von sein’ Tobsuchtsanfällen richtig fest geschlag’n ha’m, un jetz is er tot? Un die Familie vertuscht das, weil se ’n deck’n woll’n? Ha’m ’n vielleicht aufs Land geschickt oder so was?«
Gerade als Charlotte den Mund auftun und sagen wollte, eine solche Vermutung sei selbstverständlich Unsinn, merkte sie, dass sie das nicht ausschließen konnte.
Tellman holte Luft, um etwas zu sagen, aber sein Mund war voll.
»Ich denke, wir müssen noch weit mehr über die Familie Garrick in Erfahrung bringen«, äußerte Charlotte, bemüht, ihre Worte sorgfältig zu wählen.
Voll Spannung und Hoffnung sagte Gracie: »Woll’n Se Lady Vespasia fragen?« Sie hatte nicht nur von der Mitwirkung der alten Dame bei einigen Fällen erfahren, sondern sie sogar kennen gelernt und war bei Besuchen in der Keppel Street mehr als einmal von ihr angesprochen worden. Wenn sie Königin Viktoria in höchsteigener Person gewesen wäre, hätte Gracie nicht beeindruckter sein können. Immerhin war die Königin klein und eher rundlich, während Vespasia so herrschaftlich und schön aussah, wie sich das für eine Königin gehörte. Wichtiger aber noch: Sie war bereit, von ganzem Herzen bei der Aufklärung von Verbrechen mitzuhelfen. Obwohl sie eine richtige feine Dame mit all dem unvorstellbaren Glanz war, der dazu gehörte, half sie ihnen bei ihren Fällen, und eine höhere Auszeichnung konnte es in Gracies
Augen nicht geben. »Die weiß das bestimmt«, fügte sie eifrig hinzu.
Charlotte ließ den Blick von Gracie zu Tellman wandern, dem Aristokraten ebenso zuwider waren wie Amateure, die sich in Angelegenheiten der Polizei einmischten, und ganz besonders, wenn es sich um Frauen handelte. Sie zögerte, als wolle sie seine Ansicht einholen, doch als er stumm blieb, nickte sie.
»Etwas Besseres fällt mir auch nicht ein. Wie gesagt, das ist kein Fall für die Polizei, aber man muss wohl annehmen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist«, räumte Tellman ein. »Wir sollten es versuchen.«
Der Abend war viel zu weit fortgeschritten, als dass sich Charlotte bei Tante Vespasia hätte melden können, doch gleich am nächsten Vormittag zog sie ihr bestes Ausgehkleid an. Gewiss, es war nach der Mode des vorigen Jahres geschnitten, doch hatte sie weder einen Grund gesehen noch Lust verspürt, es zu ändern. Seit Pitt seines Postens als Leiter der Wache in der Bow Street enthoben und zum Sicherheitsdienst versetzt worden war, hatte es für sie weder einen Anlass noch eine Möglichkeit gegeben, an auch nur mäßig wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen. Erst jetzt, als sie den ihr nur allzu vertrauten Inhalt ihres Kleiderschranks musterte, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie modisch nicht ganz auf der Höhe der Zeit war.
Doch für solchen überflüssigen Luxus konnte die Familie Pitt kein Geld erübrigen. Was Charlotte an Kleidern besaß, wärmte, stand ihr gut und genügte den üblichen Ansprüchen vollständig. Es war
Weitere Kostenlose Bücher