Die Frau aus Alexandria
überrascht, dass ihr die Zeit sehr viel länger vorgekommen war. Zwar war er auch sonst nicht ständig zu Hause, kehrte aber abends zurück. Die Nächte ohne ihn schienen ihr fürchterlich unbehaglich, so als hätte sie vergessen, im Kamin der einzelnen Zimmer Feuer zu machen. Die Wärme des Herzens war fort. Fehlte sie ihm bei den wenigen Gelegenheiten, da sie nicht zu Hause war, ebenso sehr? Sie hoffte es von ganzem Herzen. »Inzwischen müsste er dort sein«, fügte sie hinzu.
»Das denke ich auch«, gab ihr Vespasia Recht. »Alles dort wird ihm außerordentlich fesselnd erscheinen. Vermutlich hat sich nicht viel geändert, seit ich da war, jedenfalls nichts Wesentliches.« Sie verzog ein wenig den Mund. »Allerdings war das, bevor Mr Gladstone die Stadt hat beschießen lassen. Weiß der Kuckuck, warum ihm das angebracht erschien. Das wird die Zuneigung, die ihre Bewohner uns Briten entgegenbringen, nicht gesteigert haben, doch lassen wir uns von so etwas normalerweise nicht sonderlich beeindrucken. Diese Stadt ist nicht nachtragend. Sie nimmt einfach alles in sich auf, ungefähr so, wie der menschliche Körper die Nahrung, und verwandelt es in einen Bestandteil ihrer selbst. So war es, als die Araber kamen, die Griechen, die Römer, die Armenier, die Kinder Israels und die Franzosen — warum sollte es bei uns Briten anders sein? Wir haben etwas anzubieten, und sie nimmt alles an. Diese Stadt hat einen allumfassenden Geschmack— darin liegt ihre Genialität.«
Auch wenn Charlotte sie gern dies und jenes gefragt und ihr am liebsten den ganzen Tag zugehört hätte, bemühte sie sich, Vespasias Aufmerksamkeit auf die Angelegenheit zu lenken, derentwegen sie gekommen war.
»Ich muss etwas über Ferdinand Garrick wissen, weil der Bruder einer Freundin von Gracie verschwunden ist«, erklärte sie.
»Dein Dienstmädchen?«, fragte Vespasia mit neu erwachter Aufmerksamkeit. »Die Kleine, deren Temperament gut und gern für zwei reicht, die doppelt so groß sind wie sie? Wo wird der junge
Mann vermisst, und wieso hat das ausgerechnet mit Ferdinand Garrick zu tun? Sofern er einen Dienstboten entlässt, wird er überzeugt sein, dass er dafür einen triftigen Grund hatte, und man wird keinesfalls mit ihm darüber reden können. Er hat unverrückbare Vorstellungen von Tugendhaftigkeit – und in seinen Augen ist Gerechtigkeit ein weit höheres Gut als Gnade.«
»Soweit wir wissen, hat er ihn nicht entlassen«, gab Charlotte zurück. Zugleich lief es ihr kalt über den Rücken, als sie die Besorgnis in Vespasias Augen sah, die nach wie vor in munterem Ton sprach. Es war Charlotte klar, dass sie ihre Worte ganz bewusst wählte, insbesondere, was den Hinweis auf Gnade betraf. »Genau genommen, hat Martin für Garricks Sohn Stephen gearbeitet. Er war sein Kammerdiener.« Ungehalten über sich selbst fügte sie hinzu: »Ich weiß gar nicht, warum ich ›war‹ gesagt habe. Soweit wir wissen, ist er es immer noch. Nur hat er sich eben seit nahezu drei Wochen nicht bei seiner Schwester Tilda gemeldet, der einzigen Verwandten, die er noch hat, und das ist noch nie zuvor geschehen. Gracie hat sich unauffällig im Hause Garrick umgehört und den Eindruck gewonnen, dass das Personal nicht weiß, wo sich Martin aufhält. Auch Stephen Garrick scheint nicht mehr dort zu sein. Anfangs hatten die Leute wohl angenommen, er habe sich in sein Zimmer zurückgezogen, was von Zeit zu Zeit vorzukommen scheint. Aber weder wurde Essen hingeschickt, noch kam Wäsche zum Waschen herunter.«
»Gracie war in dem Haus?«, fragte Vespasia mit einem Unterton von Bewunderung. »Das hätte ich gern gesehen! Was hat sie noch erfahren, außer dass sich weder Herr noch Diener im Hause befindet und das Personal nichts über ihren Verbleib weiß beziehungsweise nicht bereit ist, etwas darüber zu sagen?«
»Dass Stephen Garrick ein unglücklicher Mensch ist, der zu viel trinkt und zu Tobsuchtsanfällen neigt. In solchen Augenblicken wird offenbar außer Martin Garvie niemand mit ihm fertig«, fasste Charlotte zusammen. »Es wäre also ausgesprochen unvernünftig, den jungen Mann zu entlassen, da es alles andere als leicht fallen dürfte, für ihn Ersatz zu finden.«
Vespasia saß eine Weile still da, als wäre sie in die Betrachtung derer versunken, die da vorüberflanierten: Damen in ihren herrlichsten Gewändern am Arm von Herren im dunklen Cut oder in leuchtend bunter Uniform.
»Es sei denn, er hatte das Unglück, Zeuge eines besonders unangenehmen
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