Die Frau aus Alexandria
Zwischenfalls zu werden«, sagte sie schließlich leise und betrübt, »und die Stirn, für sein Schweigen Geld zu verlangen. In dem Fall hat man ihn unter Umständen für zu teuer gehalten und ohne Zeugnis entlassen.«
»Wäre das nicht in hohem Maße unvernünftig?«, hielt Charlotte dagegen. »Falls ich Angestellte hätte, die meine Familiengeheimnisse kennen, läge es doch in meinem ureigensten Interesse, dafür zu sorgen, dass sie sich ständig in meiner Nähe aufhalten und nicht mit einem – noch dazu gerechtfertigten – Groll auf mich woanders Arbeit suchen.«
Vespasia schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Meine Liebe, ein Mann wie Ferdinand Garrick lässt sich nicht zu Auskünften herab, und wer Personal einstellen möchte, fragt frühere Arbeitgeber nicht nach den Gründen ihres Handelns. Falls aber doch, würde sich jeder mit der Erklärung zufrieden geben, dass der Dienstbote gedroht habe, Tratsch über die Familie Garrick zu verbreiten. Taktlosigkeit ist die schlimmste Sünde, die sich Hauspersonal zuschulden kommen lassen kann. Mit dem Familiensilber zu verschwinden ist nicht so schlimm, wie dem Ruf der Familie zu schaden. Silber kann man nachkaufen oder, wenn es gar nicht anders geht, auch darauf verzichten. Ohne seinen guten Ruf aber kann niemand leben.«
Charlotte wusste, dass sie Recht hatte. »Trotzdem muss ich wissen, was mit Martin geschehen ist. Nehmen wir an, er wäre entlassen worden: Warum hat er Tilda nichts davon gesagt? Vor allem, wenn die Entlassung ungerechtfertigt war!«
»Das weiß ich nicht«, gab Vespasia zu und nickte huldvoll einem Bekannten zu, der sie gesehen und den Hut gelüftet hatte. Dann sah sie rasch wieder Charlotte an, damit der Mann die Erwiderung seines Grußes nicht als Einladung auffasste, zu ihnen
zu treten. »Ich glaube, du hast allen Grund, dir Sorgen zu machen.«
»Was für ein Mensch ist dieser Ferdinand Garrick, von seiner Frömmelei abgesehen?« Charlotte setzte den Fuß probehalber auf, um zu sehen, ob die Blase weniger drückte. Das war nicht der Fall.
»Um Gottes willen, Kind, zieh doch einfach den Schuh aus«, riet ihr Vespasia.
»Hier?«, fragte Charlotte verblüfft.
Vespasia lächelte. »Mit nur einem Schuh fällst du weniger auf, als wenn du die ganze Rotten Row entlang bis zu meiner Kutsche humpelst. Die Leute würden glauben, dass du betrunken bist! Ich kenne den Mann nicht besonders gut und verspüre auch nicht den Wunsch, ihn näher kennen zu lernen. Leute seines Schlages sagen mir nicht zu. Er ist völlig humorlos, und ich bin nun einmal im Laufe meines Lebens zu der Ansicht gekommen, dass Humor so etwas wie die Fähigkeit ist, die Dinge im richtigen Verhältnis zueinander zu sehen. Sicherlich hat das mit dem gesunden Menschenverstand zu tun.« Begeistert sah sie einem herumtollenden Welpen zu, der mit den Hinterläufen Steinchen emporschleuderte. »Was uns zum Lachen reizt, ist die Unverhältnismäßigkeit von Dingen. Es ist nun einmal sehr amüsant, mit anzusehen, wie einem aufgeblasenen Menschen die Luft abgelassen wird. Wenn alles auf der Welt so wäre, wie es sich angeblich gehört, wäre das Leben von unerträglicher Langeweile. Wo es nichts zu lachen gibt, fehlt ihm etwas«, sagte sie leise und lächelte. Im nächsten Augenblick aber trat ihr tiefe Bekümmernis in die Augen.
Sie hob das Kinn. »Trotz allem werde ich Ferdinand Garrick aufsuchen und sehen, was ich feststellen kann. Ich habe sonst nichts Interessantes zu tun, und auf keinen Fall etwas, das wichtiger wäre. Vielleicht liegt darin der größte Widersinn?« Der Welpe war über den Rasen verschwunden. Vespasia richtete den Blick auf ein nach der neuesten Mode gekleidetes Paar, das in der Mitte des Weges entlangschritt. Gelegentlich nickten die beiden, die Mitte fünfzig sein mochten, gnädig, wenn ihnen jemand begegnete. Bald zeigte sich, dass dahinter ein System steckte. Den Gruß mancher
erwiderten sie, andere hingegen übersahen sie. Von Zeit zu Zeit zögerten sie einen Augenblick und sahen einander an, wohl um zu entscheiden, wie sie sich zu verhalten hatten.
»Man füllt seine Zeit mit Gesellschaftsspielen«, führte Vespasia das Gespräch fort, »und bildet sich ein, das sei von Bedeutung, weil einem entweder nichts Wichtigeres einfällt oder weil man keine Lust hat, es zu tun.«
»Tante Vespasia«, sagte Charlotte mit leicht unsicherer Stimme.
Sie wandte sich ihr mit fragendem Blick zu.
»Ich weiß, dass dir die Vorstellung nicht zusagt, Mr Ryerson könnte
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