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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Lovat getötet haben«, sagte Charlotte, »oder Miss Sachari mit voller Absicht geholfen haben, damit niemand eine Möglichkeit hatte, ihr den Mord nachzuweisen. Aber überleg bitte einmal, wie es wirklich gewesen sein könnte. Was glaubst du?« Sie sah Vespasia lächeln. »Wir können uns nur dann vor dem Schlimmsten schützen, wenn wir es an uns heranlassen«, sagte Charlotte, der klar war, in welche Richtung Vespasias Sympathie ging. »Was für ein Mann ist er? Ich will nicht wissen, was die Polizei sowieso herausbekommt, sondern Dinge, die dir bekannt sind.«
    Vespasia schwieg so lange, dass Charlotte schon annahm, sie werde keine Antwort bekommen. Während sie wartete, beugte sie sich vor, um ihren Stiefel vollständig aufzuknöpfen. Es schmerzte, als sie ihn vom Fuß zog. Sie entdeckte ein Loch in der Ferse ihres Strumpfs — das also war es! Noch hatte sich die Blase nicht geöffnet.
    Sie spürte eine Berührung an ihrem Arm und hob den Blick. Vespasia hielt ihr ein seidenes Tuch und eine winzige Nagelschere hin.
    »Schneid den Strumpf ab und binde das Tuch um den Fuß«, sagte sie, »dann schaffst du es bis nach Hause, ohne dass es schlimmer wird.«
    Charlotte dankte ihr und malte sich aus, welches Bild sie bieten würde, wenn beim Gehen das bunte Tuch unter dem schwingenden Rock aus dem halbhohen Stiefel hervorsah.
    »Einfach lächeln«, riet ihr Vespasia. »Es ist besser, du fällst den Leuten durch eine exzentrische Fußbekleidung auf als durch eine saure Miene. Außerdem wirst du wohl kaum einem der Menschen, die dich hier sehen, noch einmal begegnen. Im Übrigen nehme ich an, dass du dir nicht das Geringste aus dem machst, was sie über dich denken?«
    »Das stimmt«, bestätigte Charlotte mit einem Lächeln, das vermutlich sehr viel breiter ausfiel, als Lady Vespasia erwartet hatte.
    »Du stellst mir da ausgesprochen zartfühlende Fragen, meine Liebe«, fuhr Vespasia fort, den Blick auf die Bäume in der Ferne gerichtet, deren Laub noch kaum die warmen Farben des Herbstes zeigte. »Aber du hast Recht. Saville Ryerson ist tiefer Empfindungen fähig. Darüber hinaus ist er impulsiv und ... und er kann durchaus rabiat werden.« Sie biss sich ein wenig auf die Lippe. »Er hat im Jahre einundsiebzig bei einem schrecklichen Unglück seine Frau verloren. Aber das ist es nicht allein, es war auch Untreue im Spiel. Allerdings weiß ich keine Einzelheiten darüber, und schon gar nicht, um wen es dabei ging.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Er war fuchsteufelswild. Sie hatten sich fürchterlich gestritten, und vermutlich war es für ihn gerade deshalb umso schwerer zu ertragen, dass sie gleich darauf ums Leben kam. Ebenso sehr wie über ihren Tod grämte er sich darüber, dass er sie nicht zu retten vermocht hatte. Verstärkt wurde das alles durch das Bewusstsein, dass er eine Schuld auf sich geladen hatte und das Gesagte nie wieder zurücknehmen konnte. Dabei spielt es keine Rolle, dass er von der Richtigkeit seiner Anschuldigungen überzeugt war.«
    Charlotte knöpfte ihren Stiefel wieder zu. »Das muss sehr schlimm für ihn gewesen sein. Aber kann Lovat damit etwas zu tun gehabt haben? Wie du sagst, liegt die Sache über zwanzig Jahre zurück.«
    »Nein, nicht das Geringste«, stimmte ihr Vespasia zu. »Ich habe dir das nur erzählt, damit du dir ein besseres Bild von ihm machen kannst. Seither ist er allein, hat seiner Partei und seinen Wählern gedient. Beide waren strenge Zuchtmeister, unbeständig und fordernd. Von ihnen hat er kaum etwas zurückbekommen – bisweilen
haben sie nicht einmal zu ihm gestanden. Manche allerdings, die besten, haben ihn geliebt, und das war ihm bewusst. Doch hat ihn dieser Dienst, den er völlig auf sich allein gestellt geleistet hat, ausgehöhlt.« Sie machte eine leicht wegwerfende Bewegung mit ihrer behandschuhten Hand. »Damit soll nicht gesagt sein, dass er sich die Befriedigung seiner Bedürfnisse versagt hat, doch ist er dabei stets mit der gebotenen Diskretion vorgegangen, und seine Gefühle waren daran überhaupt nicht oder nur wenig beteiligt.«
    »Bis Miss Sachari auf der Bildfläche...«
    »Genau. Und wenn sich ein leidenschaftlicher Mann verliebt, der über zwanzig Jahre lang Gefühle weder geschenkt noch empfangen hat, tut er das Hals über Kopf. Er brennt gleichsam lichterloh und wird damit zutiefst verletzbar.« Sie sagte das so gefühlvoll, als habe auch sie so etwas erlebt.
    »Ja ...«, sagte Charlotte nachdenklich. Sie versuchte sich das vorzustellen: das

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