Die Frau aus Alexandria
gewann ihr Drang zu sagen, was ihr am Herzen lag, die Oberhand, und so begann sie Vespasia ihre Vermutungen und Befürchtungen haarklein auseinander zu setzen, sodass diese bei ihrem Aufbruch ebenso viel über die Sache wusste wie Gracie selbst und Charlotte.
Das war der Auslöser dafür, dass Vespasia an jenem Abend kurz nach halb acht in ihrem lavendelfarbenen Seidenkleid wartend im Foyer des Königlichen Opernhauses mit seinen Rosa- und Goldtönen stand.
Die Diamanten ihrer Tiara blitzten bei jeder noch so kleinen Bewegung, während sie die an ihr vorüberdefilierende Menschenmenge musterte, in der Hoffnung, den ihr flüchtig bekannten Ferdinand Garrick zu entdecken. Es hatte sie den größten Teil des
Nachmittags gekostet, mit äußerster Diskretion festzustellen, wo er den Abend zu verbringen gedachte, und dann einen guten Bekannten, der ihr einen Gefallen schuldete, dazu zu überreden, dass er ihr die eigenen Karten für den Abend überließ.
Als Letztes hatte sie den Richter Theloneus Quade angerufen und ihn gebeten, sie zu begleiten. Sie hatte dabei ein schlechtes Gewissen gehabt, denn ihr war klar, dass er ihr nie im Leben einen Korb geben würde. Sie wusste, was er für sie empfand, und nach Mario Corenas Rückkehr war es ein Gebot des Anstands gewesen, niemanden in die Irre zu führen und auch nicht den Anschein zu erwecken, dass sie die ihr durchaus bekannten Gefühle anderer ausnutzte. Mit ihm war die leidenschaftliche Liebe ihrer prägendsten Jahre zurückgekommen, und sie war von einer neuen Zärtlichkeit erfüllt gewesen, die alle anderen Möglichkeiten in den Hintergrund drängte. Noch war sie nicht bereit, diese Empfindungen aufzugeben, auch wenn Mario inzwischen nicht mehr lebte. Was sie für ihn empfand, war auf alle Zeiten mit in ihr Wesen verwoben.
Jetzt aber ging es darum, etwas gegen die Gefahr zu unternehmen, in der Martin Garvie ihrer festen Überzeugung nach schwebte. Sie hatte weder Gracie noch Charlotte gezeigt, wie sehr der Fall sie beunruhigte. Sie wusste dies und jenes über Ferdinand Garrick und empfand diesem Tugendbold gegenüber eine instinktive Abneigung, für die sie keinesfalls einen Grund hätte nennen können.
Selbstverständlich hatte sie Theloneus ins Vertrauen gezogen. Da sie seine Freundschaft und Diskretion zu schätzen wusste, nahm sie seine Hilfe bei diesem Fall, dessen Lösung ihrer festen Überzeugung nach alles andere als einfach sein würde, gern in Anspruch. Und ohnehin schuldete sie ihm zumindest eine Erklärung dafür, warum sie so überstürzt eine Opernaufführung besuchen wollte, obwohl ihr klar war, dass ihm ebenso wenig daran lag wie ihr.
Sie und er sahen Garrick im selben Augenblick.
»Wollen wir?«, fragte er leise. Es klang mehr nach einer Aufforderung als nach einer Frage.
Mit den Worten: »Wer A sagt, muss auch B sagen«, nahm sie seinen Arm und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Bis sie Garrick erreicht hatten, befand sich dieser in einer angeregten Unterhaltung mit einem äußerst konservativen Bischof, den Vespasia nicht ausstehen konnte. Dreimal setzte sie an, um in das Gespräch einzugreifen, doch jedes Mal erstarben ihr die Worte auf den Lippen. Nicht einmal um einer so würdigen und bedeutenden Sache willen brachte sie es über sich, die Heuchelei so auf die Spitze zu treiben. Ohne Theloneus anzusehen, spürte sie, dass er sich amüsierte.
»Es gibt zwei Pausen«, flüsterte er ihr zu, als Garrick und der Bischof gegangen waren und auch sie ihre Plätze aufsuchen mussten.
Zwar war die Oper ein barockes Meisterwerk voll Raffinement und Licht, doch fehlten Vespasia die vertrauten Melodien, die Leidenschaft und die tiefen Gefühle Verdis, den sie liebte. Sie legte sich Pläne für die erste Pause zurecht. Unter keinen Umständen konnte sie es sich leisten, bis zur zweiten Pause zu warten, denn sie musste damit rechnen, dass sie nicht sofort an Garrick herankam. Je nachdem, mit wem er sprach, konnte sie sich unmöglich einfach einmischen. Ohne ein gewisses Fingerspitzengefühl würde es nicht gehen, denn er hatte für sie ebenso wenig übrig wie sie für ihn.
Als sich der Vorhang unter begeistertem Beifall senkte, sprang sie auf, als wäre sie von der Vorstellung hingerissen.
»Ich wusste gar nicht, dass dir das so sehr gefällt«, sagte Theloneus überrascht. »Danach hat dein Gesicht überhaupt nicht ausgesehen.«
»Tut es auch nicht«, gab sie zurück. Dass er sie beobachtet hatte, statt auf die Bühne zu sehen, brachte sie ein
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