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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Warten, die Einsamkeit der Jahre und dann die verheerende Gewalt, mit der das Gefühl über einen Menschen hereinbrach.
    »Allerdings verstehe ich nicht«, fügte Vespasia nachdenklich hinzu, mit einem Mal wieder ganz praktischer Verstand, »warum die Frau Lovat erschossen hat. Vorausgesetzt, er war kein besonders angenehmer Zeitgenosse und er hat sie belästigt — warum konnte sie ihn dann nicht einfach ignorieren oder die Polizei rufen, falls er wirklich unerträglich geworden sein sollte?«
    Ein grässlicher Verdacht meldete sich bei Charlotte. »Könnte es sein, dass er sie erpresst hat, möglicherweise im Zusammenhang mit Vorfällen in Alexandria? Wenn er nun gedroht hätte, Ryerson davon zu berichten? Das wäre doch eine Erklärung dafür, warum sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte.«
    Vespasia richtete den Blick auf das Gras zu ihren Füßen. »Möglich wäre es«, räumte sie zögernd ein. »Aber ich hoffe aus tiefster Seele, dass es nicht zutrifft. Auch sollte man annehmen, dass sie so etwas nicht ausgerechnet in einer Nacht tun würde, in der sie Ryerson erwartete. Aber vielleicht haben ihr die Umstände keine Wahl gelassen.«
    »Das wäre auch ein Grund dafür, warum sie nach wie vor niemandem vertraut«, fügte Charlotte hinzu. Sie verabscheute ihre eigenen Gedanken, aber es war sicher besser, all das jetzt zu sagen, als sie immer heftiger und ohne Antwort in ihrem Kopf kreisen zu lassen. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, womit er sie erpresst haben sollte – es sei denn, es war etwas, was Ryerson kompromittieren konnte ... etwas, was mit seiner Stellung in der Regierung zu tun hatte.«
    »Hältst du den Mann für einen Spion?«, fragte Vespasia. »Oder, besser gesagt, für einen agent provocateur ? Dann wäre der arme Saville wieder einmal Opfer eines Vertrauensbruchs.« Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Es klang wie ein Seufzen. »Wie verwundbar wir sind.« Sie stand auf. »Wie unendlich verletzlich.«
    Rasch erhob sich Charlotte und bot ihr den Arm.
    »Danke«, sagte Vespasia trocken. »Zwar weine ich innerlich wegen der Qualen eines Mannes, den ich immer gut leiden konnte, doch bin ich durchaus noch imstande, aus eigener Kraft aufzustehen, zumal ich keine Blase am Fuß habe. Vielleicht willst du dich lieber bis zu meiner Kutsche auf meinen Arm stützen? Ich bringe dich gern nach Hause, falls du dorthin willst.«
    Charlotte konnte das Lächeln, das ihr unwillkürlich auf die Lippen trat, kaum verbergen. Mit den Worten: »Das ist sehr freundlich«, nahm sie den angebotenen Arm, ohne sich darauf zu stützen. »Ja, ich möchte in die Keppel Street. Darf ich dir dort vielleicht eine Tasse Tee anbieten?«
    »Danke, gern«, nahm Vespasia mit einem kaum wahrnehmbaren belustigten Schimmer in ihren grauen Augen an. »Sicherlich wird uns den die wunderbare Gracie machen und mir dabei mehr über diesen verschwundenen Kammerdiener berichten?«
     
    Vespasia bestand darauf, den Tee in der Küche zu trinken, einem Raum, den sie in ihrem eigenen Hause allein schon deshalb nie aufsuchte, weil ihre Köchin, wenn sie sich erst einmal von ihrer Verblüffung erholt hätte, gekränkt gewesen wäre. Sie suchte die
Hausherrin jeden Morgen in ihrem Boudoir auf, um sich deren Vorstellungen von dem anzuhören, was auf den Tisch kommen sollte, und gegebenenfalls Gegenvorschläge zu machen, bis sie sich schließlich auf einen Kompromiss einigten. Die im gegenseitigen Einverständnis getroffene stillschweigende Übereinkunft lautete, dass sie nie einen Fuß in den Salon setzte und Vespasia nicht in die Küche eindrang.
    Im Hause Pitt hingegen war die Küche der Mittelpunkt des Familienlebens. Alle Mahlzeiten wurden dort nicht nur zubereitet, sondern auch eingenommen. Das Licht der Gaslampen brach sich im polierten Kupfer der Töpfe, vom zur Decke emporgezogenen Trockengestell verbreitete sich der Geruch frischer Wäsche, und der Holztisch wie auch die Bodendielen blitzten vor Sauberkeit, da sie täglich gescheuert wurden.
    Ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gesprächigkeit war Gracie anfangs still, so sehr beeindruckte sie die Anwesenheit einer richtigen Angehörigen des Hochadels in ihrer Küche, die noch dazu ganz wie ein gewöhnlicher Mensch an ihrem Tisch saß. Auch jetzt war sie mit ihrem silbrig glänzenden Haar, den überschatteten Augen, den zerbrechlich wirkenden hohen Wangenknochen und der porzellanfarbenen Haut die schönste Frau, die Gracie je gesehen hatte.
    Allmählich aber

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