Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
Stadt in die Klasse und fragt, ob eines der Mädchen Interesse hätte zu arbeiten, anstatt weiter zur Schule zu gehen. Es gäbe Betriebe, die dringend Leute suchten. Renée hebt spontan die Hand. Sie will nicht länger der Mutter auf der Tasche liegen und entschließt sich, ihre Schulkarriere zu beenden.
Renée wird zu einer deutschen Firma vermittelt, dort soll sie im Büro arbeiten. Deutsch oder nicht deutsch spielt erst einmal für sie keine Rolle – Hauptsache, sie verdient Geld. Die Firma ist Daimler-Benz. Der Name ist ihr nicht fremd, sie kennt Autos der Marke und vor allem die Lastwagen, mit denen die deutschen Soldaten in Belgien herumfahren. Sie soll in Mortsel arbeiten, einem südlichen Vorort Antwerpens. In dem Werk dort, so sagt man ihr, würden Motoren repariert.
Sie sind zu siebt, als sie dort anfangen, Renée ist die älteste. Zuerst müssen sie eine Prüfung ablegen und kommen ins Schwitzen, die Schreibmaschine ist eine andere, als die, auf der sie bisher gelernt haben, die Buchstaben sind völlig anders angeordnet. Renée weiß noch heute, wie schwierig das zu Beginn war. Sie hatten auf den in Belgien gebräuchlichen Azerty-Maschinen gelernt, die Deutschen jedoch benutzten das sogenannte Qwertz-System, das häufig gebrauchte Buchstaben möglichst weit auseinanderliegend anordnet, damit sich die Metallbeinchen nicht ineinander verhakten.
Renée schafft die Aufnahmeprüfung trotzdem. Kurz darauf beginnt sie bei Daimler. Jeden Morgen fährt sie nun mit der Straßenbahn vom äußersten Norden bis in den Süden nach Mortsel quer durch die Stadt zur Arbeit.
Im Koffer von Ady lag ein Foto aus einem Werksausweis mit dem Stempelausschnitt »Benz« und ein Werksausweis für einen Front-Reparatur-Betrieb (F. R. B.-GL.) Daimler-Benz vom Mai 1944. Also hat auch Ady für Daimler-Benz gearbeitet. Unwillkürlich stieg in mir der Gedanke auf: Wie konnte sie nur?
Aber steht es mir zu, sie zu verurteilen? Mache ich es mir damit nicht sehr einfach? Wir wollen uns nichts vormachen, es hat in allen Kriegen Kontakte zwischen der besiegten Bevölkerung und den siegreichen Soldaten gegeben. In das Bild, das Historiker und Schriftsteller gern von solchen Zeiten malten, passten solche Kontakte oft nicht hinein. Sollte doch die eine Seite eindeutig gut und die andere möglichst eindeutig böse sein. Doch »die Besatzungszeit war täglich«, wie Jean-Paul Sartre zu bedenken gab, und in der Wirklichkeit gibt es viel Raum für Zwischentöne.
Ady musste sehen, dass sie eine Arbeitsstelle in Antwerpen fand, sonst drohte die Deportation nach Deutschland. Die materiellen Lebensumstände und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt ließen nicht viele Skrupel zu. Sie suchte in erster Linie für sich und ihre Mutter ein Auskommen, das ein anständiges Leben ermöglichensollte. Wir wissen nicht, ob sie politische Erwägungen in ihre Entscheidungen einbezog. Möglich, dass in ihren Überlegungen dabei das »Fressen vor der Moral« kam – aber war es nicht objektiv besser, wenn sie schon keine Wahl hatte, in Belgien für die Deutschen zu arbeiten, als im Reich, allein und weit weg von Maria?
Auf meine Frage, ob es kein Problem für sie gewesen war, für die Deutschen zu arbeiten, antwortete Renée mir, das sei nicht wichtig gewesen. Sie wären froh gewesen, Arbeit zu haben, saubere Büroarbeit. Es war Krieg, sie waren jung und wollten leben – und nicht zuletzt wollten sie Spaß haben. Der Anschein von Leichtfertigkeit täuscht. Sie lebten unter Besatzern, die ihre eigenen Ziele rigoros verfolgten. Die Nazis wussten sich die Arbeitskräfte zu beschaffen, die sie benötigten.
Daimler-Benz in Antwerpen
Renée lernte Ady bei Daimler am Telefon kennen. Die Firma, für die sie tätig waren, reparierte Motoren von Jagdflugzeugen. Jeden Nachmittag telefonierten die beiden Frauen miteinander, wenn Renée die Handakten der Motoren vervollständigte. »Ady arbeitete bei Daimler-Benz im Büro 4, mein Bruder Paul war in D-B 3 in der Montage-Halle und ich war im Büro im Haupthaus, das ›Mutterhaus‹ genannt wurde, in der technischen Abteilung«, berichtete Renée, als wir in ihrem Wohnzimmer in Antwerpen saßen. »Ady war dichter bei den Hallen und kannte die Arbeiter viel besser, Deutsche und Belgier. Ihr Chef war der Karl-Heinz. Er war ein Einzelgänger, ich glaube aus der Gegend von Nürnberg. Ich musste jeden Tag Ady anrufen, um die Nummern der Motoren zu erfragen, die fertig repariert waren. Anschließend musste ich im Keller die
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