Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
verschiedenen Gruppen der Zwangsarbeiter in fein abgestufter Form jeweils durch Vorschriften und Befehle geregelt. Flämische sowie dänische und niederländische Arbeiter und Arbeiterinnen, oftmals auch Franzosen genauso wie anfangs die Italiener, durften wie Renée und Ady in Privatunterkünften wohnen und sich relativ frei bewegen. Allerdings war diese private Unterbringung den Behörden aus rasse- und sicherheitspolitischen Gründen mitunter ein Dorn im Auge. Mehrfache Versuche über die Jahre, die Ausländer generell zu kasernieren und in Lager abzudrängen blieben aber häufig erfolglos.
Wo die Hardliner siegten, wurden auch Belgier in Wohnlagern kaserniert, die Tag und Nacht bewacht waren. Die Bewohner, sogenannte freie Arbeiter, trugen Zivilkleidung, wurden jedoch bewacht in geschlossenen Kolonnen zur Arbeit geführt. Ihr Arbeitstag begann in der Regel morgens um 5:30 Uhr. Die Arbeitszeit betrug acht bis zehn Stunden. Sonntags dagegen konnten sie sich frei in der Stadt oder dem Dorf bewegen.
Grundsätzlich durften die Dänen, Niederländer und Flamen in ihrer Freizeit unternehmen, was sie wollten, doch die Handhabung blieb den örtlichen Kräften überlassen. Der Münchner Polizeipräsident zum Beispiel stellte im April 1944 lapidar fest: »Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Ausländer ausschließlich zur Arbeitsleistung und nicht zum Vergnügen in das Reichsgebiet hereingeholt wurden und sich eben den kriegsbedingten Einschränkungen unterzuordnen haben. Ausflugs-, Besuchs- und Vergnügungsreisen sind nicht zuzulassen.«
Ady und Renée lebten – oberflächlich betrachtet – wie ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Ihnen war es erlaubt, im Sommer das Schwimmbad an der Oder zu besuchen, oder, als es kühler wurde, die Schwimmhalle. Sofern sie gut genug deutsch sprachen, konnten sie in der Gemeindebücherei Bücher entleihen, Konzerte oder Theateraufführungen besuchen oder, was besonders beliebt war,Kinovorführungen. Vermutlich haben sie auch den Kassenschlager ›Die Feuerzangenbowle‹ gesehen. 1943 mit Heinz Rühmann verfilmt steht er für die Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Seine Entstehung hat der Film anscheinend Neusalz zu verdanken. Als Urheber der ›Feuerzangenbowle‹ gilt der Rechtsanwalt Heinrich Spoerl. Doch ein Mann namens Hans Reimann, seines Zeichens Schriftsteller und Satiriker, berichtete in seinen Memoiren ›Mein blaues Wunder‹, dass er zusammen mit dem befreundeten Spoerl ein Exposé zu dem Stoff verfasst und zu Recherchezwecken noch einmal die Schulbank gedrückt habe – in einem Gymnasium im niederschlesischen Neusalz an der Oder. Dort »mimte ich einen Herrn von mittleren Jahren, welcher das Abitur nachholen will, um studieren zu können.« Es war die Rolle des späten Gymnasiasten Hans Pfeiffer. Hans Reimann hatte 1921 eine beißende Satire auf das antisemitische Machwerk von Artur Dinter ›Die Sünde wider das Blut‹ veröffentlicht, unter dem Namen Artur Sünder mit dem gut sächsischen Titel: ›Die Dinte wider das Blut‹. Später habe er den Nazis nicht durch Publikationen auffallen wollen und Spoerl aus »gesundheitlichen Gründen« den Ruhm der Autorenschaft überlassen – und so blieb es bei allen Veröffentlichungen und im Film-Vorspann bis heute.
Die Frauen hatten theoretisch wie die anderen auf der Rasseskala der Nazis Obenstehenden sogar Anspruch auf Urlaub. Doch nach 1942 waren die Familienheimfahrten für Ledige eingeschränkt worden, weil die Erfahrung gezeigt hatte, dass nur wenige der Heimfahrenden wieder an ihre Arbeitsstelle im Reich zurückkehrten.
Ady und Renée waren krankenversichert und zahlten, welch Zynismus, in die Arbeitslosenversicherung und die Rentenkasse ein.
Die Beiträge wurden dann zwar in Belgien gutgeschrieben, doch lag das zukünftig zu erwartende Leistungsniveau häufig unter dem deutschen. Mit der Krankenversicherung verhielt es sich ähnlich. Im Krankheitsfall war es letztlich Entscheidungssache der jeweiligen Betriebs-, Ortsoder Landeskrankenkasse, ob sie der vom Arzt verordneten Behandlung zustimmte oder nicht. Unter Adys Unterlagen fanden wir auch eine Bescheinigung aus den sechziger Jahren, dass sie sich wegen »narbiger Lungenprozesse« in ärztliche Behandlung begeben musste. Alles deutet darauf hin, dass sie früh inihrem Leben an Tuberkulose erkrankt war. Für Menschen ihrer Generation war dies nicht ungewöhnlich, nicht alle hatten die Mittel, sich zur Kur nach Davos
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