Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
an verschiedenen Stellen in der Stadt. Und das, was sich bereits auf der Fahrt angekündigt hatte, festigte sich nun: Walloninnen und Fläminnen blieben jeweils unter sich, der Harem fiel auseinander. Vor allem Renée war oft allein unterwegs, »ich schließe mich nicht so direkt an, ich muss Zeit für mich haben«.
Nach einigen Wochen, es war bereits Herbst, konnte Renée ihre Dachwohnung und die ungeliebte Vermieterin verlassen. Ein Tipp der Bäckersfrau verhalf ihr zu einem möblierten Zimmer, ausgerechnet in der Adolf-Hitler-Straße. Hier, in der Nummer 10, war eine Frau ihre Vermieterin, diesmal allerdings »eine richtige Dame. Dort waren nach meiner Meinung sehr schöne Möbel. Ihr Mann, er war Ingenieur, war in Russland als Offizier.« Die neue Wohnung machte sich vor allem im herannahenden Winter bezahlt. »Ich hatte mein Zimmer, es war die Bibliothek mit einem Ziegel-Kamin, es war schön warm. Mein Bett war ein großes Sofa-Bett. Ich hatte von der Gemeindeverwaltung eine Genehmigung bekommen für 800 Kilo Kohlen. Bekannte von meiner Vermieterin haben dafür gesorgt, dass ich die Säcke im Keller ausschütten konnte.« Renée las sich im Winter 44/45, die Füße am warmen Ofen, in ihrer Freizeit durch die Bücher des Ingenieurs und seiner Frau.
Ein Teil ihrer guten Deutschkenntnisse wird wohl in diesen Monaten ihren Ursprung haben.
Trotz allen bescheidenen Komforts vermissten die Frauen die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit und die Lebenslust der Antwerpener. Neusalz war grau und das nicht nur wegen der vielen rauchenden Schornsteine. »Eine deutsche Frau schminkt sich nicht!« – malten sie sich die Lippen an, fielen sie aus der Reihe, und sich schön zu machen war schon deshalb nicht einfach, weil ihre Kleidung längst nicht mehr neu war und manche Bluse, mancher Rock lang schon dringender Reparatur bedurft hätte. Besonders deutlich wurde das Renée, wenn sie andere Antwerpener traf. »Ich habe da jemand gesehen, der mich erkannt hat von Belgien. Ich stand in der Reihe für ein Kinoticket. Da waren drei Lazarette in Neusalz und er kam zu mir und sagte, ›ich kenne Sie, sind Sie nicht von Ekeren-Donk?‹ Wer um Himmels willen kennt Ekeren-Donk? Er hatte immer die Straßenbahn genommen. Ich dachte erst, ob er die gefahren hat. Er aber sagte, ›nee, ich habe die Bekanntschaft von einem Mädchen gemacht, das in Ekeren-Donk lebte. Wir haben uns in der Straßenbahn verabredet.‹ Sie stand immer vorne und wir standen immer hinten. So habe ich ihn nie gesehen, aber er mich. Und er sagte, ›jeden Sonntag!‹ Ich sagte, ›ja, ich ging jeden Sonntag nach Antwerpen‹. Denn unsere Mutter hatte eine gewonnene Monatskarte. Obwohl unsere Karte erlaubte, zur Arbeit zu fahren, durften wir sie nicht am Wochenende benutzen. Da mussten wir bezahlen.«
Ady und Jupp führen ein Leben wie ein Ehepaar. Morgens frühstücken sie zusammen, dann gehen sie gemeinsam zur Arbeit, am Büro an den Getreidehallen verabschiedet sich Jupp und geht zu seiner Arbeitsstelle, im Norden von Neusalz. Am Abend treffen sie sich wieder in der gemeinsamen Wohnung oder machen zusammen Besorgungen, hauptsächlich Lebensmittel auf Marken. Renée und Jupp lernen sich erst als Nachbarn in Neusalz näher kennen. »Jupp war ziemlich zurückgezogen. Wenn man ihn besser kannte, freute er sich und war ein sehr angenehmer Mensch. Er war kein großer Redner. Er war bestimmt Adys Beschützer.« Jupp gibt auf Ady acht, doch er will, sobald es geht, zurück zu seiner Familie in Bottrop. Wenn sie das alles hinter sich haben. Ady sehnt sich nach Antwerpen zurück, nach ihrer Mutter, nach dem trotz allem freieren Leben dort. Renée erinnert sich: »Sie hat gern gelacht, aber sie konnte sehr schwermütig sein. Ich glaube, das war ihre Art. Zum Beispiel, ich habe nie Heimweh, ich kenne das nicht. Und sie hatte Heimweh, nach der Mutter, dem Vater und der Umgebung. Oder wenn ein Lied spielte im Radio, und es war sehr emotional, dann weinte sie.« Trotz allem planen Jupp und Ady eine gemeinsame Zukunft, sie sprechen darüber zu heiraten, Jupp will Kinder haben. Das aber schließt Ady kategorisch aus – zumindest vorerst. Auch mit Renée spricht sie darüber, nein, sie wolle jetzt keine Kinder, in diesen Zeiten könne man keine Kinder in die Welt setzen.
Ein Witz: Urlaub und Rentenanspruch
Man hielt sich im nationalsozialistischen Deutschland Zwangsarbeiter und gestand ihnen – wenn auch oft widerwillig – gewisse Freiheiten zu. Die waren jedoch für die
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